Die Wahrheit: Betrunkene Passagiere im Hörgehölz
Aus dem Tagebuch einer Umbucherin. Dem modernen Reisenden mangelt es deutlich an Contenance. Man stelle sich vor: Tausende betrunken!
A n diesem Morgen weckt das Radio mit einer überraschenden Meldung: „Infolge von Warnstreiks an einigen deutschen Flughäfen mussten Tausende betrunkene Passagiere umgebucht werden.“ Zugegeben, Warnstreiks können einem wirklich den Tag verhageln, aber muss man sich deshalb gleich dermaßen gehen lassen?
Dem modernen Reisenden mangelt es deutlich an Contenance. Man stelle sich vor: Tausende! Betrunken! Mit einem einzelnen Suffkopp wird der Flugbegleiter fertig, aber massenhaft Passagiere, breit wie Nattern? Da führt das Triple A aus „Alkohol – Anarchie – Amnesie“ unweigerlich in die Katastrophe.
Nun bringt so was schon auf dem Boden die Dinge in Schieflage, in der Luft jedoch wünscht sich der nüchterne Fluggast geordnete Verhältnissen. Was hat er zuletzt aber auch mitmachen müssen! Enthemmt in den Gang urinierende Starschauspieler, vergrippte Sitznachbarn, und jetzt erlauben die sonst so pingeligen Amerikaner sogar Messer an Bord! Quel bordel!
Beim Frühstück im Café hört man vom Nebentisch dann diese Unterhaltung: „Das hieß ja hier mal Weißenburgstraße, aber der war Nazi, und weil die was nach der Kollwitz benennen wollten, haben die dann die Weißenburger …“ Interessant. Die Internetrecherche ergibt „Weißenburg (Wissembourg), eine Stadt im Elsass.“
Natürlich. Die Nachbarstraßen heißen Straßburger und Kolmarer, aber hat der Kaffeehausreferent nicht laut und deutlich „Nazi“ gesagt? Und so gibt man zur Sicherheit noch mal „Weißenburg“ und „Nazi“ ein, und siehe da: „Das Weißenburger Landkreisbündnis gegen rechts meldet mehrere neonazistische Propagandaaktionen. So seien am 5. März in Pappenheim geschichtsrevisionistische und Anti-EU-Flyer in Briefkästen gesteckt worden.“ Pappenheim? Das gibt’s?
Das Internet bestätigt: „Pappenheim, ehemalige Residenzstadt der Reichserbmarschälle, liegt im schönen Bayern, mitten im Naturpark Altmühltal. Die Stadt ist der einzige Luftkurort in Mittelfranken.“ So führt eins zum andern. Hört sich an wie eine vernünftige Gegend, in die man verkaterte Passagiere umbuchen könnte.
Das Nachrichtenhören im Verlauf des Tages führt dann zur eigenen Ernüchterung: „Tausende betroffene Passagiere …“ Oy wei. Altersbedingter Hörschaden. Oder beginnende Demenz?
Aber nein, es besteht schlicht die Neigung zu Missverständnis und Wortunfall, dessen erinnerungswürdigster schon Jahre zurückliegt: USA 2008, Gartenbesitzerin und Arboristikerin besprechen den Rückschnitt der Gehölze. Vor einem wild wuchernden Exemplar verkündet die Gartenbesitzerin mit fester Stimme „We got to do something about the holocaust“!
Unvergesslich das verwirrte Gesicht der Baumexpertin. War es die Last der Erbschuld, die aus ihrer deutschen Kundin sprach? Die Kundin begreift mit Verzögerung den Sinn ihrer Worte und erleidet einen stummen Lachanfall, während sie innerlich den Baum anfleht: „Gleditsia triacanthos, zu Deutsch Gleditschie, wie heißt du … – Honey locust.“
Darauf trinken und umbuchen lassen!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut