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Die WahrheitIn der bösartigen Landschaft

Kolumne
von Eugen Egner

Kurz vor meinem Ziel hielt der Zug auf freier Strecke. Die Reisenden wurden über Lautsprecher informiert, es gehe nicht weiter.

E s war so, dass die Landschaft, von der hier berichtet werden soll, von heimtückischer, menschenfeindlicher Natur war. Sie veränderte sich nicht nur willkürlich, sondern beeinflusste auch das Denken derer, die sich in ihr aufhielten.

Ich fuhr damals mit dem Zug durch besagte Gegend und war mit einem Mal sicher, dort eine Fabrik geerbt zu haben und nun unterwegs zu sein, um sie zu besichtigen. In allen Einzelheiten erinnerte mich, wie ich von der Erbschaft erfahren, einen Termin vereinbart und meine Reise geplant hatte. Kurz vor meinem Ziel hielt der Zug auf freier Strecke. Die Reisenden wurden über Lautsprecher informiert, es gehe nicht weiter und der Zug werde nun wieder zurückfahren. Das passte mir schlecht, weshalb ich mich mit dem Schaffner besprach. Er meinte, ich könne aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Bis zu meinem Zielbahnhof sei es kein Kilometer mehr. Auf meine Frage, was denn der Grund für den Abbruch der Fahrt sei, antwortete er: „Die Schienen sind weg. Alle. In beide Richtungen.“

Wie ich nach dem Aussteigen sehen konnte, verhielt es sich wirklich so. Die Schwellen lagen noch vollzählig an ihrem Platz, die Gleise indes fehlten. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass dieser Umstand zwangsläufig Einfluss auf meine Heimreise hatte. Die Neuverlegung ganzer Schienenstränge würde kaum in ein paar Tagen abgeschlossen sein. So plötzlich, wie sie gekommen war, verließ mich die Überzeugung, in dieser Gegend eine Fabrik geerbt zu haben. Dummerweise war der Zug bereits fort. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu der nahen Stadt zu gehen und mich neu zu orientieren.

Hundert Meter weiter erreichte ich eine sogenannte Blockstelle, ein zweistöckiges Backsteingebäude auf einer eingezäunten, gartenartigen Grünfläche. Es stand jemand am Zaun, eine relativ junge Frau. Ich habe jetzt überhaupt keine Lust, diese Person zu beschreiben, die Formulierung von Sachverhalten ist mir ein Greuel, das möchte ich an dieser Stelle einmal anmerken. Es muss reichen, wenn ich sage, die Frau war mittelgroß und sah durchschnittlich aus. Diese Beschreibung traf ebenfalls auf mich zu, nur, dass ich weniger Haare hatte. Ich grüßte und schilderte ihr kurz meine missliche Situation.

„Ja“, sagte die Frau, „die Landschaft hat Sie hereingelegt. Sie trachtet, alle Menschen zu vernichten, und macht sie zu diesem Zweck verrückt. Ich bin die Tochter des Blockstellenwärters. Mein Vater kann Sie leider nicht begrüßen, er ist krank.“

Dann sprach sie davon, wie gern sie professionelle Pianistin geworden wäre, dass es immer ihr Wunsch gewesen sei, zu reisen, überall Konzerte zu geben und die Welt kennenzulernen. Stattdessen sei sie aber verdammt, in dieser Einöde zu hausen, in einer menschenfeindlichen Gegend, weil ihr Vater auf sie angewiesen sei. Wegen seiner Krankheit müsse sie die notwendigen Arbeiten verrichten und werde die Blockstelle einmal von ihm erben. Ihr einziger Trost sei das Harmonium, auf dem sie manchmal spiele.

Ich bedankte mich und setzte meinen Weg fort.

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