Die Wahrheit: Ein letzter Notfall
Epilog der großen Wahrheit-Sommerserie „Ympäri Suomen – Rund um Finnland“. Heute: Glasbruch in Schweden.
Im vergangenen Jahr erschien das Buch „Finne dich selbst“ von Bernd Gieseking. Ein Jahr später wollte der Wahrheit-Autor überprüfen, ob auch alles noch seine Richtigkeit besaß, was er seinerzeit über das seltsame Suomi geschrieben hatte. Deshalb umrundete er einen Sommer lang in zehn Wochen für die Wahrheit, die sonst Umrundungen aller Art strikt ablehnt, ganz Finnland.
Ich war in Finnland. Ein paar Wochen. Am Ende hat mich meine Freundin abgeholt. Sie kam nach Turku. Wir haben die Fähre genommen nach Stockholm und dort übernachtet. Und schon war das schöne Leben vorbei. Nicht wegen meiner Freundin. Als ich zum Auto kam, war die Beifahrerscheibe hinten eingeschlagen. Und die Tasche meiner Freundin verschwunden. Wertsachen hatten wir nicht im Wagen gelassen. Die Lederjacke meiner Freundin lag noch im Wagen, dazu ein Rentiergeweih aus Lappland und die neuen CDs von Nick Cave und Iggy Pop.
„Ist der Weinschlauch noch da?“, fragte meine Freundin, die einen Sinn fürs Praktische hat. Den Wein hatte sie im Flugzeug mitgebracht. Wir stellten fest, dass die Diebe alles Wichtige dagelassen hatten. Dilettanten. Wir suchten das Gebüsch ab und fanden die Tasche. Die Diebe hatten sich nicht für ihre getragene Unterwäsche interessiert, und sogar ihr nagelneues Abba-T-Shirt war unberührt. In Schweden!
Wir riefen die Polizei. Schon die Empfangsdame des Hotels hatte die Behörden verständigt, sie hatte den Einbruch früh bei Dienstbeginn bemerkt und die Auskunft bekommen, diesen Schaden müssten die Eigentümer selbst anzeigen. Meine Freundin meinte, das hier sei ja nun ein Tatort und ich solle das Auto auf keinen Fall wegfahren, bevor nicht die Polizei käme. Offenbar ist die Stockholmer Polizei aber nicht interessiert an Wagenaufbrüchen. Sie kämen nicht vorbei, teilte man uns mit, wir hingegen könnten gern kommen und den Schaden anzeigen.
Es war Samstagvormittag, zehn Uhr. Ich rief meine Versicherung an. „Wir glauben dir auch so, dass die Scheibe kaputt ist, für uns musst du da nicht hin und warten, bis du dran bist.“
Eigentlich hatten wir ins Museum gewollt und dann weiter nach Deutschland. Aber ohne Scheibe? Wir klappten den Laptop auf und recherchierten mit der Rezeption um die Wette. Ein Callcenter versprach, unsere Anfrage an Carglass weiterzugeben. Genau die: „Carglass repariert, Carglass tauscht aus.“ Der grässlich nervende Werbejingle.
Ich ließ nicht locker. Ich wollte sofort und direkt dorthin. Das habe keinen Sinn, man brauche einen Termin. Ich sei aber ein Notfall. Das sei egal. Wenn ich eine Scheibe bräuchte, bräuchte ich auch einen Termin. Carglass werde mich zurückrufen. Wann? Das könne man mir nicht sagen. Meine Freundin fand Adresse und Öffnungszeit von einer der drei Carglass-Niederlassungen in Stockholm, die als Einzige samstags geöffnet war, bis 15 Uhr. Es war 11.30 Uhr.
Vom Hotel bekamen wir eine Plastiktüte und Klebeband. Meine Freundin entpuppte sich als talentierte Glaserin. Man konnte sogar die Tür auf und zu machen. Ich hatte erst die ganze Autoseite verklebt und kam nicht mehr in den Wagen. Sie grinste.
Wir fuhren zu Carglass. Dort war niemand. Nur ein Schild mit den Geschäftszeiten. Demnach hätte der Laden geöffnet sein müssen. Ich telefonierte erneut. Nein, alle Niederlassungen hätten zu. Ich bräuchte nun mal einen Termin. Ob Carglass mich noch nicht zurückgerufen habe? Also, das täten sie bestimmt. Wann? Ja, das könne sie nicht sagen. Wir sahen uns an, stiegen ein und fuhren nach Deutschland.
Womöglich gibt es in Schweden irgendeine unselige Komplizenschaft zwischen Autoknackern und Glasaustauschern, die einen Fremden zwischen Betriebsschluss am Freitag und Arbeitsbeginn am Montagmorgen unversorgt lassen. Man kann doch wohl erwarten, dass Diebe gefälligst Scheiben einschlagen zu Zeiten, an denen auch repariert werden kann.
Wir fuhren mit 80 und flatternder Mülltüte in der Tür über Autobahnen, auf denen wir ohnehin nicht viel schneller hätten fahren dürfen. An einer Tankstelle kaufte ich dem schwedischen Tankwart für alle Fälle weitere Mülltüten ab, die großen Schwarzen aus dickem Plastik und den Rest einer Kleberolle.
„50 Kronen?“, schlug ich vor. Er strahlte. Oder, fiel ihm ein, ob ich ein besseres Klebeband wollte? Ich nickte. Er überreichte mir ein Päckchen Gaffa Tape. Ich strahlte. Kein Konzert oder Bühnenauftritt in Deutschland findet statt ohne dieses Zauberband. Meine Freundin klebte es zu einem Gitternetz über der Tüte. Danach fuhren wir 140, ohne Flattern, auch durch Regen. Aerodynamisch top. Im Design einzigartig. Und dicht!
Ich schlug meiner Liebsten vor, ein neues Leben als Autofenster-Designerin zu beginnen. Sie wurde zumindest nachdenklich. Wir durchquerten Schweden und Dänemark, dann brachte uns die Fähre nach Fehmarn. Montagmorgen um 10.20 Uhr rief mich Carglass Stockholm an. Wann ich denn einen Termin haben wolle. „Gar nicht“, sagte ich. „Ich lasse das so!“ Dann legte ich auf.
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