Die Wahrheit: Kaffee mit Herz
„Während wir hier gemütlich bei einer Tasse ’Feine Milde‘ sitzen, warten 12.000 Menschen auf ein Spenderorgan“. Tchibo steigt in den Organhandel ein.
Zur Pressekonferenz in Hamburg war hoher Besuch aus Berlin angereist. Wirtschaftsminister Philipp Rösler und Gesundheitsminister Daniel Bahr saßen auf dem Podium, ebenso Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery. Auf einem riesigen Bildschirm prangte der Schriftzug: „Das gibt es nur bei Tchibo!“, daneben leuchtete ein rotes Herz. Markus Conrad, Vorstandsvorsitzender der Tchibo GmbH, saß genau unter dem Herz.
Er verkündete: „Wir haben uns heute hier versammelt, um einen Skandal zu beenden. Einen Skandal, den wir als Unternehmen mit sozialer Verantwortung nicht länger hinnehmen.“ Er fasste sich an die Brust. „Hand aufs Herz: Wer von ihnen wäre bereit, ein Organ zu spenden?“
Verlegenes Räuspern drang durch den Saal. Conrad nickte. „Ich, wir, wir alle hier oben wissen genau, was Sie denken! Sie haben das Vertrauen verloren. Das Vertrauen in ein System, in dem schwere Fehler begangen wurden. Aber damit ist jetzt Schluss!“ Auf dem Monitor wechselte das Bild: „Kaffee mit Herz – die neue Tchibo SpenderCard!“
„Während wir hier gemütlich bei einer Tasse ’Feine Milde‘ sitzen, warten 12.000 Menschen in Deutschland verzweifelt auf ein Spenderorgan“, rief Conrad. Er stand auf und streckte ein blaues Plastikkärtchen in die Luft. „Ihnen werden wir eine völlig neue Welt eröffnen: Wir werden Leben retten!“ Tosender Beifall.
Formal sei die Karte ein „herkömmlicher“ Organspendeausweis, der „aber viel mehr kann: Unsere Kunden können damit exklusiv Organe spenden oder erwerben, je nach Bedarf“, erläuterte Conrad. Der „Clou“ sei das TCM-Siegel, das bei Verbrauchern bereits „gut eingeführt“ und „absolut vertrauenswürdig“ sei. „TCM-zertifizierte Organe erfüllen höchste Anforderungen an Produktsicherheit und -qualität und zeichnen sich durch eine lange Lebensdauer aus“, ergänzte Tchibo-Sprecherin Karla Crema. Zugleich trage man auch dem wachsenden Anspruch des Kunden nach Individualisierung seines Produkts Rechnung.
Überdies erwerbe man Vorteile auf den Wartelisten für Spenderorgane – „aber eben offiziell und ganz legal“, sagte Minister Bahr augenzwinkernd. „Mit der BasisCard für 149 Euro macht Ihr Herz einen Sprung unter die ersten 1.000 Plätze auf der Warteliste“, erläuterte Crema. Die ComfortCard für 199 Euro sichere einen Platz unter den ersten 500 Wartenden, die SuperiorCard und damit ein Rang in den Top 100 koste 249 Euro.
„Was ist schon eine solche Summe gegen die Aussicht, jahrelang zur Dialyse zu müssen?“, so Crema. „Selbstverständlich sammeln Sie mit allen Karten auch unsere Treue-Bohnen, die Sie in attraktive Prämien umwandeln können, zum Beispiel in diese Weißwurst-Zangen aus stabilem Buchenholz!“ Das wirtschaftliche Potenzial der SpenderCard sei „enorm“, meint Conrad. „Bisher besitzt nur etwa jeder fünfte Deutsche einen Organspendeausweis, daher halten wir rund 60 Millionen Neukunden für realistisch.“
„Das Leben ändert sich manchmal von einer Minute auf die andere“, erklärte Wirtschaftsminister Rösler. „Erst ist es nur ein Schnupfen oder ein Pickel, aber dann ist es doch lebensgefährlich oder sogar tödlich, und das kann einem ja ganz schön an die Nieren gehen. Doch die neue TchiboCard bedeutet für unsere Bürgerinnen und Bürger in jeder Lebenslage eine absolute Win-win-Situation.“
Conrad erwiderte, diese Idee habe sich bereits 1949 angedeutet: „Schließlich hieß einer unserer Firmengründer Max Herz.“ Bahr fügte hinzu, Tchibo habe sich mit seiner Zahnersatzcard in der Medizinbranche bewährt und sei daher auch in anderen „sensiblen Bereichen“ ein zuverlässiger Partner: „Es ist eine der Hauptaufgaben der Demokratie, solche Initiativen aus der privaten Wirtschaft durch staatliche Organe – wie zum Beispiel mich – zu, äh, unterstützen.“
Zunächst nehme man Herz, Niere und Leber ins Programm, sagte Conrad, „mit der Option, das Sortiment um Lunge, Darm, Bauchspeicheldrüse und Gewebearten zu erweitern“. Die Kontrolle und Zertifizierung der Organe erfolge in einem modernen „Frisch-Depot“ auf der ägyptischen Halbinsel Sinai. Dort sei man mit den „spezifischen Voraussetzungen“ bestens vertraut, arbeite aber „selbstverständlich unter deutscher Leitung“.
Ärztepräsident Montgomery sieht in der Aktion des Kaffeeunternehmens ein „gutes Instrument, um die Wichtigkeit des Themas in die breite Öffentlichkeit zu bringen“. Ebenso werde der Wunsch vieler Menschen erfüllt, die neben Sachinformationen „auch eine emotionale Ansprache“ verlangten.
Daher sei es sehr förderlich, dass in sämtlichen Tchibo-Filialen künftig neben „Verwöhnwäsche“, Microfaserstaubtüchern und künstlichen Kauleisten ganz selbstverständlich „menschliche Ware“ angeboten werde, sagte Sprecherin Crema: „Und dazu der Duft von frisch gemahlenem Kaffee!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin