Die Wahrheit: Lifestyle mit Sprengkraft

Als vorweihnachtliche Geschenktipps präsentiert die Wahrheit Sachbücher, die die Welt unbedingt braucht.

Wer zu viel liest, dem kommt, wie auf der Fressalienmesse in Minsk, der Käse zu den Ohren heraus. Bild: reuters

Bald steht Weihnachten vor der Tür. Das war so nicht zu erwarten. Panik macht sich breit, Schweiß steht auf der Stirn. Was zum Henker schenkt man nur der buckligen Verwandtschaft? „Haste keinen Plan, schenk doch ’nen Roman“ war gestern. Heute geht der Trend zum Sachbuch. Dabei ist das Thema völlig egal: Ob Lebensratgeber, Diätplaner oder Do-it-yourself-Anleitung. Ohne Hilfe bekommen die wenigsten Menschen ihr Leben in den Griff. Die Wahrheit stellt Ihnen exklusiv die Top-Titel vor.

„Complicate your life“

Uns geht es zu gut. Alles fällt zu leicht. Deshalb sind wir deprimiert. So lautet die knappe, aber prägnante Analyse der New Yorker Autorin Brenda Owen. Ihr Vorschlag: Warum einfach, wenn es doch kompliziert geht. Stechen Sie zum Beispiel abends die Reifen Ihres Autos platt und stehen Sie morgens zu spät auf. Verpassen Sie auf dem Weg zur Arbeit die Bahn und beleidigen Sie im Büro Ihren Chef. Verabreden Sie sich zu einem Date und schütten Sie zu Hause eine Flasche Rotwein über Ihr Abendkleid.

Verschließen Sie sorgfältig die Haustür und werfen Sie den Schlüssel in den Gully. Das mögen auf den ersten Blick simple Tricks sein, aber das Leben ist nicht so einfach. Erst durch gelungene Komplikationen im Alltag lernen sie die Komplexität des Seins kennen. Eine aberwitzige Anleitung zum Aberwitzigwerden von einer aberwitzigen Autorin. Ein Sachbuch, so faszinierend wie ein Verkehrsunfall.

„Ja zum Neinsagen!“

Die Autoren Meinhard von Rientraut und Meike Loos legen eine knallharte Abrechnung vor. Wir leben in einem Zustand permanenter Bedrohung. Alles ist gefährdet: das Klima, die Eisbären, der Weltfrieden, die Verkehrssicherheit, die Rente, das Gesundheitssystem, unserer Integrität. Und wer ist schuld daran? Wir. Wir fahren nicht Fahrrad, sondern Riesenautos. Wir hassen den Islam und tragen Eisbärenfelle. Wir wählen korrupte Politiker und integre Lobbyisten. Es bleibt nur eine Rettung: die Totalverweigerung. Wer ganz auf Kleidung verzichtet, unterstützt auch keine Kinderarbeit.

Wer nicht zur Arbeit geht, leidet nicht unter niedrigen Löhnen. Wer nur Flusswasser trinkt und Grassuppe mit Erdklößchen isst, verhindert die Ausbeutung von Planet und Tier. Die gut informierten Weltverweigerer Loos und von Rientraut zitieren in ihrem praktischen Lebensratgeber faszinierende Passagen aus dem Alten Testament oder graben sich tief ein in die dunklen Seiten der Kommunikation, wenn sie ihren zutiefst unwichtigen persönlichen Mailverkehr der letzten zehn Jahre nachdrucken. Frei nach dem Motto „Wer nichts macht, macht nichts kaputt“. Eine eindrucksvolle Demonstration effektiven Nichtstuns.

„Askese und Käse“

Die Autorin Heidrun Möller-Amundiadonitis erzählt, wie sie zu sich selbst gefunden hat: durch Käse. Seit zehn Jahren ernährt sich die Autodidaktin ausschließlich von Käseprodukten. Egal ob Gouda oder Emmentaler, Mozzarella oder Tilsiter, Pecorino oder Grana Padano – ihr Beispiel zeigt auf verblüffende Weise, wie innerer Friede für jeden erreichbar ist. Die Käseaskese führt schon nach wenigen Wochen zu massiven Mangelerscheinungen. Dadurch ist der Organismus so geschwächt, dass die innere Einkehr ganz von selbst eintritt. Ein beachtliches Werk von durchschlagender Wirkung auch auf den Geruchssinn, da als Anlage zehn der durchdringendsten Käsesorten beim Druck mitverarbeitet wurden.

„Flammen für den Garten“

Gärtnern ist hip, ökologisch und gleicht das Gemüt aus. Davon versuchen uns hunderte Lifestyle-Magazine zu überzeugen. Schnell ist der Balkon begrünt, der Schrebergarten angemietet oder das Eigenheim mit Garten gekauft. Wie schön im Frühling dort alles erblüht! Welch betörender Duft sich ausbreitet! Ach, du köstliches Aroma ungespritzter Äpfel! Und dann? Dann kommt das Unkraut und wuchert alles zu. Die einst so stolzen Gewächse verwelken, zeigen ihre grässliche braune Seite. Des Gärtners Stolz mutiert zu einem verwilderten Hinterhof der Hölle. Der Autor Wilfried Rissmann ist ehemaliger Rotarmist und Geheimagent des KGB und hat sich – seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion – auf Gartenthemen spezialisiert.

Auf unterhaltsame Weise gibt er sein immenses und über den Garten weit hinausreichendes Wissen weiter: Von Tipps zur flächendeckenden Brandrodung über die gezielte Sprengkraft selbst gebastelter Granaten bis hin zum Einsatz alter Flammenwerfer aus Sowjetbeständen – dieser Ratgeber für stalinistische Säuberungsaktionen im Garten überzeugt selbst eingefleischte Pazifisten, dass im Kampf gegen die Natur nur Aufrüstung hilft. Ein herausragendes Werk mit gesellschaftlicher Sprengkraft, von der Maulwürfe nur träumen können. Ein Spitzentitel der diesjährigen, mehr als gelungenen Sachbuch-Saison.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.