Die Wahrheit: Weihnachten mit „Hello Kitty“
Was will dieser Luftballon von mir und meiner Familie? Überall ist er Heiligabend dabei und drängt sich tief in unser Leben.
W indschiefe Holzhütten, die um einen Dom sich drängen wie die Ferkelchen um eine Sau. Ladenbesitzer, die tadelswerten Tand verhökern und danach trachten, eine Kundschaft übers Ohr zu hauen, die sich in ihrer Gier nach Attraktionen und Zerstreuung gegenseitig auf die Füße tritt. Getrunken wird, was schnell betrunken macht, und gefressen, was sich im Stehen herunterschlingen lässt. In jedem halbwegs toten Winkel verrichten, sich mit der freien Hand am Gemäuer abstützend, schwankende Ganoven ihre Notdurft. Und über all dem lärmenden Treiben hängt wie ein gelber Baldachin der süßlich-scheußliche Duft der Vergänglichkeit.
Weihnachtsmärkte sind wie eine ferne Erinnerung der mitteleuropäischen Menschheit an die Marktplätze des Mittelalters, eng und grausam. Fast wären wir, es war der 1. Advent, unbeschadet wieder rausgekommen – hätte die Fünfjährige nicht von Ferne schon den Ballonverkäufer entdeckt. Bunt und verführerisch schwankte eine ganze Traube grinsender Comicfiguren über der Menge. Als wir uns endlich durch die Menge gekämpft und die Aufmerksamkeit des Verkäufers errungen hatten, gab es kein Zurück mehr, als er uns einen mehr als stolzen, mehr als gepfefferten, sondern einen halsabschneiderischen Preis nannte – für eine mit Helium gefüllte „Hello Kitty“ im grotesken Weihnachtsmannkostüm.
Kaum war die vom Kinde eben noch buchstäblich brüllend begehrte „Hello Kitty“ sicher zu Hause angekommen, war sie auch schon vergessen. Einmal losgelassen, stieg sie zur Kinderzimmerdecke hinauf und stand dort oben für zwei Wochen in der Ecke. In der dritten Woche hatte der Ballon genug Gas verloren, dass er ein paar Zentimeter unterhalb der Decke schwebte. Kurz vor Heiligabend endlich ließ „Hello Kitty“ sich so weit herab, dass sie uns auf Augenhöhe begegnen konnte. Und weil in ihrem Gesicht skizzenhafte Niedlichkeit mit völliger Leere konkurriert, fühlte es sich bald an, als hätten wir ein zusätzliches Kleinkind in der Wohnung.
Tatsächlich trieb „Hello Kitty“ in unsichtbaren Luftströmungen wie ein Gespenst durch die Feiertage. Backten wir Plätzchen in der Küche, schwebte sie über dem Herd. Öffneten wir die Tür zum kleinen Klo, stand sie schon daneben. Spielten wir Karten, schaute sie uns über die Schulter. Manchmal sahen wir sie, wie unterwegs zu einem wichtigen Termin, durch den Flur fahren. Während der Bescherung tanzte sie in Zeitlupe durchs Wohnzimmer und konnte nur durch einen beherzten Hechtsprung davon abgehalten werden, sich an einer Kerze zu entzünden und wie eine niedliche Version der „Graf Hindenburg“ in Flammen aufzugehen. Später stand sie dann ernst im Bad vor dem Spiegel, als frage sie sich: „Was soll das alles?“
Das fragten wir uns auch bald. Hatten wir wirklich all die blutigen Abwehrschlachten gegen Barbie und Prinzessin Lillifee geschlagen, um nun vor „Hello Kitty“ zu kapitulieren? Offenbar schon. Während ich dies hier tippe, steht das zudringliche Ding in Hüfthöhe neben dem Schreibtisch. Immerhin dämmert mir nun langsam, was genau ich gegen Katzen habe.
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