Die Wahrheit: Geblitzte Blitzleser
Schnelllesen ist passé – jetzt kommt Lesen in Zeitlupe. Lesen Sie diese Zeilen noch mal in aller Ruhe, dann den nachfolgenden Text.
Lucky Luke konnte schneller lesen als sein Schatten und galt seinerzeit als der belesenste Cowboy des Westens. Damals hatte er auch gut schnelllesen, denn er las nur Steckbriefe und die riefen in großer Schrift zum Lesen auf. Mit seinem Lesetempo konnte er einst den leseschwachen Daltons imponieren, heute würde Herr Luke bei Schnelllesewettbewerben nur noch unter ferner lesen landen.
Denn moderne Blitzleser schaffen heutzutage locker 500 Wörter in der Minute. Damit das klappt, braucht der Leser kräftige Augenmuskeln, denn das Auge liest ja bekanntlich mit. Es gibt drei Augenmuskelpaare beim Menschen, die trainiert sein wollen wie die Wadenmuskel beim Sprinter. Und das Gehirn? Das ist ja beim Lesen auch nicht unwesentlich beteiligt. „Anfänglich kommt es meist dazu, dass die Augen zwar schneller werden, das Hirn jedoch hinterherhinkt“, räumt der Tagesspiegel in einem Schnelllese-Report ein. Aber keine Sorge: „Das Gehirn holt die Augen schnell ein.“
Wenn man erfolgreich einen der zahlreichen Speedreading-Kurse absolviert hat, wird sich das Gehirn verwundert die Augen reiben, wenn es feststellt, dass sich seine Lesegeschwindigkeit verdoppelt hat. Da nimmt es dann auch gern in Kauf, dass so ein Power-Reading-Kurs zwischen 350 und 450 Euro kostet. Dazu kommt natürlich noch der deutlich erhöhte Lesestoffverbrauch, der ja auch ins Geld geht.
Wer besucht eigentlich so einen Lesekurs? Hauptsächlich notorische Faulpelze, die an zwei Wochenenden den Lesestoff eines ganzen Semesters nachholen müssen, ferner säumige Ausleiher in Bibliotheken, die ihre Bücher zurückgeben müssen, und selbstverständlich die literarischen Schnorrer, die gefürchteten Buchhandlungsleser.
Widerstand gegen Speed-Leser
Doch gegen die Raser auf der Autobahn des Lesens regt sich Widerstand, Trecker mit dem Spruchband nach Entschleunigung biegen ein und die überhitzten Gehirne der Speedreader machen große Augen. Für die neue Gegenbewegung der Langsamleser kommt es nicht darauf an, wie schnell man ein Wort liest, sondern wie intensiv man sich damit auseinandersetzt. „Gut gekaut ist halb verdaut“, predigt man ja nicht umsonst den Schlingeln in der Kita. Und nichts ist unangenehmer als ein Blitzleser im Seminar, der vor allen Augen einen nur halbverdauten Text wieder komplett herauswürgt.
Der entschleunigte Langsamleser wird im Laufe der Zeit immer weniger Bücher verschlingen müssen, sein Ziel ist das tiefenentspannte Einbuchlesen. Nicht pro Woche, sondern im Leseleben! An Stelle der hemmungslosen Polybibliophilie tritt die nachhaltige Einbuchliebe! Einbuchleser zelebrieren den Mangel genießerisch: Am Freitag ist Einworttag, und am Wochenende gibt’s dann auch mal zwei davon. Bücher wie „100 Jahre Langsamkeit“, „Die Langsamkeit des Langstreckenläufers“ oder „Die Schnecke“ sind Lieblingstitel beim entschleunigten Lesepublikum. Komplett Entschleunigte greifen gar zum Einwortbuch und lassen sich dann jeden Buchstaben förmlich auf der Zunge zergehen, doch solcher Purismus ist nicht jedermanns Sache.
Lesen in Superzeitlupe
Was unseren überreizten Hirnen aber gefallen wird, sind die gemütlichen Superzeitlupenvorträge der Entschleunigten, die die hektischen Schnelllesewettbewerbe der Speedsters konterkarieren. Beim Langsamlesen hinkt kein Hirn hinterher, da kann es noch voranhüpfen. Die langsamen Vorleser werden für jede erkennbare Mundbewegung mit hartem Punktabzug bestraft, und der gar schönste Beifall des entschleunigten Publikums für die Vortragenden ist ein beredtes Schweigen.
Und wie denken die Entschleunigten der Buchwelt über die Speedleser? Am liebsten würden sie ihnen den Mantel des Schweigens in die Speichen des Buches werfen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass das klappt, ist ungefähr so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass Coyote Carl den Roadrunner zu fassen kriegt!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!