: »Die Wahrheit liegt noch vor uns«
■ Der stellvertretende SPD-Vorsitzenden Wolfgang Thierse über Fink und Vergangenheitsbewältigung
taz: Sind wir bei der Vergangenheitsbewältigung in Ostdeutschland an einem Wendepunkt angekommen?
Thierse: Ich bin mir noch nicht sicher, ob dies ein Wendepunkt ist. Aber wir sind an einem sehr gefährlichen Punkt angelangt, an einer Weggabelung, wo man sich entscheiden muß. Will man wirklich eine aufrichtige, zugleich radikale wie menschenverträgliche Weise des Umgangs mit der Vergangenheit erreichen, oder will man doch den Deckel zumachen, sich verabschieden, den Mantel der Nächstenliebe drüberwerfen und dies ideologisch verbrämen? Es ist irritierend. Bis vor kurzem war sich ein großer Teil der DDR-Bevölkerung darin einig, daß wir die Einsichtnahme in die Stasi- Akten brauchen. Im Interese der Opfer, aber auch im Interesse einer ehrlichen Weise miteinander weiterzuleben.
Und jetzt habe ich den Eindruck bei der Verteidigung des Rektors Heinrich Fink, daß ein Teil der sich aus verständlichen Gründen verletzt fühlenden Intellektuellen der ehemaligen DDR sagt, nein, so haben wir nicht gewettet. Es entsteht der Eindruck, daß man am liebsten selbst entscheiden möchte, welche Stasi- Akte einem paßt und welche nicht. Im Fall de Maizière haben die Informationen aus den Stasi-Unterlagen jenen, die sich jetzt heftig zur Verteidigung Finks äußern, noch gereicht. Da paßte es einem; jetzt paßt es nicht. Da entsteht der Verdacht, man wolle selektiv mit dieser Vergangenheit umgehen, lediglich sich selber die Interpretationsmacht über die Vergangenheit und damit über die Gegenwart zugestehen. Das geht nicht. Wenn wir nicht bereit sind, die gefährlichen Momente dieser Vergangenheitsbewältigung, also das Nichtsteuerbare der Vergangenheitsaufarbeitung hinzunehmen, dann wollen wir offensichtlich diese Aufarbeitung nicht. Denn dann wollen wir ja selber dekretieren, selektieren und interpretieren, was Vergangenheit ist und uns ihr nicht so stellen, wie sie war.
Liegt es daran, daß Heinrich Fink ein guter linker Ossi ist, eine Identifikationsfigur für einen Neuanfang, weil er versucht hat, die Humboldt-Universität vor der Abwicklung zu retten? Verbirgt sich hinter den Sympathien auch ein Aufbäumen derer, die selber zwar nicht schuldig geworden sind, aber auch nichts gegen das DDR-Regime getan haben?
Wir befinden uns bei der Bewältigung der Vergangenheit in einem Kräfteparallelogramm zwischen Ost und West. Die Tschechen und die Polen haben es in dieser Frage leichter. Sie haben nicht den großen Bruder, der immer mitredet. Das ist unsere Schwierigkeit. Man nimmt übel, daß ein Senator, der ein Westdeutscher ist, aus den Stasi-Akten eine forsche politische Schlußfolgerung zieht. Darin erscheint vielen die Grundsituation wieder, die als Kolonialisierung, als Besetzung, als Anschluß bezeichnet worden ist. Indem man sich gegen diese — in mancher Hinsicht wirklich unerträgliche — Dominanz des Westens wehrt, wehrt man sich faktisch zugleich gegen das Wiederkehren der Vergangenheit. Das ist ein fataler Mechanismus. Wir müssen beides fertigbringen, wenn wir nicht in den doppelten Fängen einer Vergangenheit einerseits und einer westdeutschen Dominanz bleiben wollen. Wir können nicht unter uns bleiben mit der Vergangenheitsbewältigung. Sie sind immer schon da, die Westdeutschen: als Zeugen, als Leute, die dreinreden. Sei es in der Form von 'Super!‘, sei es in der Form von Politikern, sei es in der Form von sensiblen, differenzierenden oder besserwissenden West-Intellektuellen — damit müssen wir leben. Diesen Grundsachverhalt dürfen wir aber nicht dazu benutzen, uns vor der Vergangenheit zu drücken.
Wer formuliert denn nun aber die Grundsätze, nach denen bewertet wird, was schuldhafte Verstrickung ist und was Zwang der Verhältnisse war. Gibt es eine westdeutsche Wahrheit und eine ostdeutsche Wahrheit?
Die »Wahrheit« gibt es noch nicht, sie liegt noch vor uns. Es war immer meine Überzeugung, die bei mir mit der Idee eines Tribunals verbunden ist, daß wir in einem öffentlichen, fairen Gespräch über Vergangenheit zugleich die Maßstäbe entwickeln, wie diese Vergangenheit zu beurteilen ist. Wir müssen die Fähigkeit zur Differenzierung erwerben, auch den Mut zu Differenzierung unter Beweis stellen, weil es diese Maßstäbe noch nicht gibt, es sei denn, wir nehmen ganz elementare Maßstäbe, die es immer gibt: gut und böse, wahr und falsch, korrumpiert und nicht korrumpiert. Aber man muß solche grundsätzlichen Maßstäbe dann auch anwenden. Das wird mit vielen Verletzungen, mit vielem Streit verbunden sein. Wer den Streit ablehnt, wer ablehnt, daß der ganze Prozeß mit Emotionen, mit Wutausbrüchen, mit Zorn, mit Verzweiflungen, mit Beleidigungen, mit Verletzungen zu tun hat — wer das ablehnt, der will den ganzen Prozeß nicht. Ein Verhältnis zu dieser bedrängenden Vergangenheit kann man nicht ganz nüchtern, rein sachlich, ganz distanziert, ganz objektiv erreichen. Es sei denn, man flüchtet sich in die strengen Formen des Strafrechts. Aber da sind wir uns ja einig, daß das Strafrecht nur bestimmte Möglichkeiten hat, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Also muß man diesen offenen Prozeß mit Verletzungen, mit Beleidigungen, mit Wut und Verzweiflung und Emotionen zulassen, wenn man die Vergangenheit nicht verdrängen will. Insofern beurteile ich die ganzen Vorgänge im Streit Biermann gegen Anderson durchaus anders als viele. Ich kann die Formfehler alle beschreiben. Aber es sind dann doch nur Formfehler. Wer das kritisiert, denunziert den ganzen Prozeß. Ich aber will um der Demokratie willen diesen Prozeß der Auseinandersetzung, für die die Regeln noch zu finden sind: jenseits von Zensur und von Beschönigung und von Denunziation gleichermaßen. Es wird darum gehen, die Maßstäbe im Streit zu entwickeln und sie nicht bereits vorauszusetzen. Darin dürfen wir uns nicht durch die Westdeutschen vertreten lassen.
Wehren sich die Ostdeutschen nicht zu Recht gegen den Gestus des Kolonialismus des Westens, der diktiert, was Wahrheit und was Verstrickung zu sein habe?
Ich verstehe ganz gut, daß man sich dagegen wehrt. Wir können die Westdeutschen zwar nicht zum Schweigen bringen. Sie sollen ruhig mitreden und uns auf unsere Borniertheiten, unseren Fanatismus und unser Selbstmitleid hinweisen. Man darf diese Einrede aber nicht zur Ausrede machen, um nichts zu tun. Im Fall Fink hat Senator Erhardt die Konsequenzen gezogen, die nach dem Einigungsvertrag möglich sind und denen Fink in anderen Fällen auch immer zugestimmt hat. Man weiß jetzt, daß Fink den Inhalt der Auskunft der Gauck-Behörde einige Wochen vorher kannte. Auch ein kurzes Gespräch mit Erhardt hat es vorher gegeben. Deswegen wird mein Verdacht immer stärker, daß eine Kritik an Formfehlern eigentlich eine Position der inhaltlichen Verweigerung ist.
Alarmiert Sie eine wachsende Trotzhaltung gegenüber und Verharmlosung von Stasi-Kontakten?
Die beunruhigt mich sehr. Hier wird jetzt eine Haltung und Mentalität, eine unbewußte Strategie der öffentlichen Äußerung deutlich. Die läuft darauf hinaus, daß alle irgendwie schuldig waren und damit alle irgenwie unschuldig. Je mehr beschuldigt werden können, möglichst undifferenziert, möglichst im vagen, um so mehr können sich alle entlasten und sagen, wir sind ja alle Täter und Opfer zugleich. Das ist ein kollektiver Entlastungsvorgang. Es werden die Quellen, die Stasi-Unterlagen wie auch die Gauck-Behörde insgesamt verdächtigt, dieses Material sei ja gar nicht richtig beweiskräftig. Der vornehme Satz heißt: Wir geben der Stasi noch Gewalt über uns, wenn wir so gute Menschen wie Heinrich Fink belasten. Da hat man sozusagen eine Abwehrfront aufgebaut, da kann man die Gauck-Behörde insgesamt in Zweifel ziehen. Damit wird insgesamt ein Klima erzeugt, in dem ich sagen kann, es hat die Stasi gegeben, aber es bringt nichts, diese Vergangenheit öffentlich zu machen. Es ist nichts beweiskräftig, und es gibt keine moralische Autorität. Dann bin ich endgültig bei Entlastungen. Das finde ich fatal. Was sich hier ankündigt auf unterschiedlichem intellektuellen Niveau ist das, was Jürgen Habermas im Zusammenhang mit dem Historikerstreit die »Entmoralisierung unser Vergangenheit« nannte. Was mich aufregt, ist, daß wir die Opfer, die Benachteiligten dieses DDR-Regimes damit zum zweiten Mal verraten, zum zweiten Mal alleine lassen. Das war doch unsere gemeinsame Überzeugung beim Stasi-Unterlagen-Gesetz, einen öffentlichen Diskurs zu ermöglichen, damit die Opfer endlich ins Recht gesetzt werden. Das würde dann wieder verraten werden. Dann hätten noch einmal diejenigen gewonnen, die in der DDR immer schon auf der Gewinnerseite gestanden haben.
Die Verhältnisse zu erklären soll das Verhalten erklärbar machen. Dafür bin ich auch. Ich bin auch gegen diesen moralisch steil aufgerichteten Schuldspruch. Wir müssen verständlich machen, aber nicht alles entschuldbar machen. Es ist richtig zu sagen, das Leben in der DDR war »halb und halb«. Das trifft auf uns alle zu, auf die 16 Millionen. Aber es gibt einen kleinen Unterschied. Daran halte ich eisern fest: Wir haben immer gewußt, daß wir in Kompromissen leben und mehr oder minder angepaßt sind, nicht wie Helden leben. Aber wir haben ein Tabu gekannt: Mit der Stasi lassen wir uns nicht ein. Wenn angesichts eines Stasi-Verdachts der rechtfertigende Satz kommt, das war eben Leben »halb und halb«, da wird er falsch. Da wird er zur Rechtfertigungsideologie. Mit diesem Satz war eben nicht mehr die Mitarbeit bei der Stasi gemeint: das war nicht halb und halb, sondern mit Haut und Haaren der Macht übergeben. Wir müssen es fertigbringen, zwischen einer Verharmlosung und einem falschen Fanatismus oder aber dem arroganten Urteil der Wessis einen Weg zu finden.
Das Gespräch führte
Gerd Nowakowski
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