Die Waffen der Kritik: Jean-Luc Nancy in Berlin
Wir leben in einer kontingenten Welt. Eine chaotische und komplexe Welt, die enorme Risiken birgt – und deren Sinn letztendlich nicht erklärbar ist. Diese Spannung auszuhalten, anstatt sie mit einfachen Erklärungen aufzulösen, ist die Pflicht der Philosophie. So jedenfalls versteht sie der französische Philosoph Jean-Luc Nancy, der am vergangenen Donnerstag im Berliner HAU-Theater einen Vortrag im Rahmen des Symposiums „Was ist Kritik?“ hielt. Spannung war auch das, was den ausverkauften Saal durch die nächsten zweieinhalb Stunden brachte. Nicht nur, weil Nancy auf Deutsch vortrug, was eine angenehme Entschleunigung einforderte, sondern auch, weil bisweilen nicht klar war, was sie jetzt eigentlich ist, diese Kritik. Deutlicher wurde, was sie nicht ist. Oder nicht sein sollte. Eine bloße Bewertung oder „Verurteilung“ anhand eines bestimmten Kriteriums, griechisch für Richtmaß, oder ein reflektierendes Urteil, das die „Abstände zwischen den jeweiligen Werken und dem Schönen“ repariert.
Nancy, spätestens seit dem Werk „Corpus“ von 1992 eine buchgewordene Dekonstruktion der Körper-Geist-Differenz und einer der weltweit berühmtesten Philosophen, ist überzeugt, dass jede Kritik immer auch Selbstkritik enthalten müsse. Auch sei es stets notwendig, von „Reiz oder Rührung“, wie Kant in „Kritik der Urteilskraft“ schreibt, zu abstrahieren. Am wichtigsten sei jedoch, die durch den „Riss“ der Kritik erzeugte „Öffnung“ nicht schließen zu wollen, sondern sie zu akzeptieren. Der 75-jährige Nancy steht demnach fest in der Tradition seines Lehrers Jacques Derrida, der in den 1960er Jahren die hyperkritische Methode der Dekonstruktion begründete, also das unablässige Hinterfragen aller Texte und vermeintlichen Wahrheiten.
„Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen“, zitierte Nancy Marx, der damit seinerseits darauf hinwies, dass jede Theorie irgendwann in materielle Gewalt münden kann. Dass Kritik auch Selbstermächtigung ist, nach Foucault die Kunst der „freiwilligen Unknechtschaft“, wurde an diesem Abend wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt. Apropos Revolution. Die obligatorische Frage nach ihr blieb bei der anschließenden Diskussion nicht aus. Nancy, der inzwischen eher denkend sprach als sprechend dachte, zieht den Begriff der Resolution, also Entscheidung, vor. Für was, blieb unbeantwortet. Genauso wie die Frage nach dem Verhältnis von Kritik und Affirmation, die der Philosoph Marcus Steinweg stellte, der als Initiator und Moderator anwesend war. Und die Zukunft? Selbst das Wetter ließe sich kaum vorhersagen, sagte Nancy und erntete Gelächter. „Es ist unsere Pflicht, ins Unbekannte hinauszugehen“, waren seine letzten Worte. Sie ließen die Anwesenden mit wenigen Antworten, aber bewaffnet mit vielen Fragen zurück. Philipp Rhensius
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