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Die Vorlese-OmiSchwere Sätze

In der Grundschule an der Königstraße in Hamburg-Altona gibt es Kinder, deren Eltern kein Deutsch können oder Analphabeten sind. Das ist dann ein Fall für Sabine Illing, die Lese-Omi.

Lesen ist schwer, aber Fuchsi, der brave Plüschfuchs hilft. Bild: Ulrike Schmidt

Fuchsi und Sabine Illing kommen nicht so ohne weiteres über den Schulhof. "Frau Illing, Frau Illing", rufen die Kinder und hängen an Frau Illings Mantel. Dann sind Fuchsi, der Plüschfuchs, und Frau Illing im Schulraum der 2 b der Grundschule an der Königstraße in Hamburg-Altona. "Kein Kind mit deutschem Namen in der Klasse", sagt Lehrerin Andrea Kleffel. Und nicht alle Eltern sind am schulischen Fortkommen ihrer Kinder interessiert. Das wirkt sich aus. Frau Kleffel sagt, dass es Analphabeten unter den Eltern gibt und einige, die so gut wie kein Deutsch sprechen. Wirkt sich auch aus. Manche Eltern sind sehr interessiert und machen ihren Kindern Druck. Auch das wirkt sich aus.

Anastasia und Hüseyin, beide acht Jahre alt, haben in der nächsten Stunde keinen Unterricht bei Frau Kleffel, sondern sitzen bei Fuchsi und Frau Illing, 64, der Lese-Omi, im Nebenraum. Nächsten Mittwoch sind andere Kinder dran, immer zwei, immer mittwochs, das ganze Schuljahr über. Frau Illing hat die Kinder seit der ersten und bis zur vierten Klasse. Ihr Ziel: "In der Vierten lesen wir Zeitung, das ist wichtig."

In dem Nebenraum gibt es ein Sofa und Kissen und Puppen und Plüschtiere und einen Computer und viele Bücher. Es werden immer mehr Bücher, weil die ehrenamtliche Lese-Omi Bücher kauft und sie mitbringt und dalässt.

Lese-Omis

Ein halbes Dutzend Lese-Omis arbeiten ehrenamtlich beim Projekt "Lesen in Altona" mit.

Die Zielgruppe sind Kinder von vier bis 14 Jahren.

Leseorte sind der Kinderladen Maimouna, die Kita Struenseestraße, das Jugendcafé Altona, die Schule Thadenstraße und die Schule Carsten-Rheder-Straße.

Finanziert wird das Projekt vom Bundesfamilienministerium und der Migrationsbeauftragten der Bundesregierung. ROR

Sie hat auch noch eine Tüte dabei, von der keiner weiß, was drin ist. Gleich ist Mittwoch, 12 Uhr. Gleich ist Vorlesezeit.

Anastasia sitzt neben Frau Illing, auch weil sie zwischendurch gern ein bisschen kuschelt, Hüseyin sitzt Frau Illing gegenüber, Fuchsi auf dem Tisch. Frau Illing sagt den Satz: "Für heute habe ich euch ein neues Buch mitgebracht." Das Buch heißt "Ätze, das Zirkusmonster".

Frau Illing liest erst mal ein paar Seiten vor, dass alle gut reinkommen. Frau Illing kann unheimlich gut lesen. Laut und leise, flüsternd, da sieht man das kleine, ungefährliche aber stinkende, ungewaschene Monster vor sich. Man mag es von der ersten Zeile an. Dann liest Anastasia, so, wie wir das alle mal gemacht haben: Finger unter dem Wort, langsam, Zeile für Zeile. "Er fauchte und zog Grimassen" ist ein schwerer Satz. "Was ist fauchen?", fragt Frau Illing. Ja - was könnte das sein? Fauchen?

"Hüseyin, habt ihr eine Katze zu Hause?" - "Ne." Hüseyin hat Brüder, aber keine Katze. Wie macht eine Katze? Hüseyin überlegt. Er schnurrt, aber er faucht nicht. Da faucht Frau Illing. Aah. Und was sind Grimassen? Puh. Anastasia überlegt. Frau Illing kann schreckliche Grimassen schneiden. Die Mundwinkel mit den Fingern fast bis zu den Augen hochziehen. Sieht viel monströser aus als das fieseste Zirkusmonster.

Hüseyin lacht, weil Frau Illing so schrecklich aussieht. "Willst du weiterlesen?", fragt Frau Illing. Hüseyin nickt. Hier ist kein Druck, hier lacht einen keiner aus. Dann fragt Frau Illing wie der Clown heißt, der gerade mit Ätze zusammen im Zirkus aufgetreten ist. Hm. Und wie der Zauberer? Tja, hm. Da muss man ganz schön aufpassen. Was ist "aufplustern", und wie geht das mit Zirkuskindern und der Schule? "Wir hier in Deutschland wollen", sagt Frau Illing, "dass Kinder in die Schule gehen." Hüseyin nickt. "Überall", sagt er. Frau Illing ist nicht sicher: "Na ja, nicht überall. Und wir hier in Deutschland wollen ganz besonders, dass Kinder in die Schule gehen."

Frau Illing greift in ihre Tüte und holt einen nackten Tannenzapfen raus. "Was ist das?", fragt sie. "Tannenzapfen", sagt Anastasia. "Abgenagt", vermutet Hüseyin. "Aber von wem?", fragt Frau Illing. "Vögel", vermutet Hüseyin. "Bibers", tippt Anastasia. "Nein, Biber, ohne S", korrigiert Frau Illing, "aber das waren keine Biber, die leben am Wasser, die holen sich keine Tannenzapfen." Sie kramt ein Foto von einem Tier aus der Tüte, das sieht ein bisschen aus wie Fuchsi. "Eichhörnchen", sagt Hüseyin. Genau.

Dann sagt Frau Illing: "Zwanzig Zwerge machen Handstand, zehn im Wandschrank, zehn am Sandstrand." Jeder muss mal. Und dann weiter mit "Ätze", die Kinder bekommen ein Blatt und malen Ätze. Hüseyin holt sein Lineal und kriegt ein wunderbares Monster auf sein Blatt.

Frau Illing hat "völlig freie Hand". Das tut der Sache gut. Kann auch sein, sie macht mal Apfelmus mit ihnen und es werden eine Stunde lang Äpfel geschält. Die Kinder erzählen dabei und Frau Illing sagt was über heiße Herdplatten. Es gibt Fortbildung für die Lese-Omis, bei denen sie neue Methoden kennen lernen und neue Kinderbücher, aber so ein Apfel, den Frau Illing aus der Tüte holt, und mit dem superscharfen Schweizermesser in Stücke schneidet, ist old School, aber gut.

Dann lesen sie noch ein bisschen und schauen sich danach ein "Wimmelbild" an. Das zeigt einen Rummel und die Kinder erzählen, was sie im Heidepark Soltau erlebt haben, da waren weder Frau Illing noch Fuchsi. "Donniwetti", sagt Frau Illing, "da ist aber was los." Und die Kinder nicken. Dann suchen sie nach den Hunden auf den Wimmelbildern. Sind immer die gleichen Hunde auf jedem Bild und immer gut versteckt. Dann signieren die Kinder ihre selbst gemalten Bilder, die Frau Illing sammelt, und Anastasia malt ihrem Monster rasch noch ganz dreckige Zähne. Einen roten und einen gelben. Aber die Zähne sind klein. Ganz klein und nicht scharf. So ein Monster ist "Ätze".

Dann packt Frau Illing das Buch in den Buchständer, die anderen Kinder der 2 b gucken ins Zimmer. Frau Illing packt das Schweizermesser, das Apfelkernhaus und alles andere ein. Und den braven Fuchsi.

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2 Kommentare

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  • DA
    die andere Omi

    Das Interesse an der eigenen deutschsprachigen Enkelin ist nahezu gleich Null.

    Schade, eben doch kein sooo lobenswerter Charakter.

  • M
    M.Eskandani

    Wunderbar! Es kann nicht genug Vorlese-Omis und -Opas geben an den Schulen.

    Für Teenager hingegen sind deutsche Gesprächspartner und Begleiter wichtig, wie der Film in der Serie "Lebenslinien" über den Schriftsteller Nevfel Cumart gezeigt hat. Bei ihm hat ein deutsches Ehepaar, Eltern eines Klassenkameraden, eine ganz wichtige unterstützende, beratende und anregende Funktion für seine Positionierung zwischen seinem türkischem und deutschem Lebensteil und für seine Selbstfindung gehabt.