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Die „Verrottung von Regierungssitten“

Ein kämpferischer Hans Eichel gab Regierungserklärung zum Lottoskandal ab / Opposition forderte Ende der „Genossenfilzbazillusmanier“ / Eichel erhielt Vertrauen  ■ Aus Wiesbaden K.-Peter Klingelschmitt

Daß die repräsentative Demokratie auf der parlamentarischen Ebene doch noch funktioniert, stellte gestern der hessische Landtag eindrucksvoll unter Beweis: Da versuchte ein von seinem neuen Team in der Staatskanzlei auf Kampf programmierter Ministerpräsident Hans Eichel (SPD), der immer wieder von demonstrativ stürmisch vorgetragenen Ovationen seiner früher so renitenten Fraktion unterbrochen wurde, im Rahmen einer Regierungserklärung „auf den Knien“ die Menschen draußen im Lande um Vergebung für den Lottoskandal zu bitten – und gleichzeitig eine „politische Erfolgsbilanz der rot-grünen Koalition“ vorzulegen. Und der ebenso kämpferisch eingestellte Oppositionsführer Roland Koch (CDU) beschrieb in knapp einstündiger Gegenrede genüßlich die „Genossenfilzbazillusmanier“, mit der die hessische SPD wesentlich zur „Verrottung von Regierungssitten“ und damit zur Politik(er)verdrossenheit in der Bevölkerung beigetragen hätten.

In seiner Regierungserklärung hatte Eichel am Vormittag konstatieren müssen, daß aufgrund der Affaire um die hessische Lottogesellschaft „ein Stück Vertrauen verlorengegangen“ sei. Der Ministerpräsident sicherte die „lückenlose Aufklärung aller Sachverhalte ohne Ansehen der Personen“ zu und kündigte an, die Strukturen so verändern zu wollen, „daß sich Vergleichbares nach menschlichem Ermessen nicht wiederholen kann“. Danach kam Eichel prompt aus der Defensive: Die Empörung in der Bevölkerung sei echt und nachvollziehbar – die bei den Oppositionsparteien dagegen „scheinheilig und völlig fehl am Platze“. Auch unter der Regentschaft von Ministerpräsident Walter Wallmann (CDU) und seinem Finanzminister, dem heutigen Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU), seien die Strukturen innerhalb der Lottogesellschaft unangetastet geblieben.

Und unter welchen Umständen es unter Kanther gleichfalls zu einer Vereinbarung über eine hohe Abfindung für einen Geschäftsführer der Lottogesellschaft gekommen sei, müsse nun gleichfalls untersucht werden, sagte Eichel unter dem Beifall der Koalitionsfraktionen. Dann stellte er unter dem Hohngelächter von CDU und FDP die „Erfolgsbilanz“ der rot- rünen Koalition vor: Schulfrieden hergestellt, Wohnungen gebaut, Polizisten eingestellt, den ökologischen Umbau eingeleitet.

Oppositionsführer Koch schlug danach erst einmal die taz auf und zitierte vor dem Landtag aus der „den Grünen nahestehenden“ Zeitung. Auch er zog Bilanz – eine Skandalbilanz von Dienstvilla-Affaire des Ministerpräsidenten über die Dienstwohnungsaffaire von Frauenministerin Heide Pfarr bis hin zum Skandal um den Neonaziauftrieb in Fulda. Und Koch benannte auch die beiden Schuldigen an all dem Unglück im Hessenland: den Genossenfilz und den „schwachen Ministerpräsidenten“, über den selbst ein Mitglied der SPD-Fraktion in der vergangenen Woche gesagt habe, daß man „aus Mist kein Marzipan kneten“ könne.

Im Anschluß an den parlamentarischen Schlagabtausch gab es dann für Eichel doch noch „Marzipan“. Die Koalitionsfraktionen sprachen der von Eichel neu geformten Landesregierung geschlossen das Vertrauen aus – und dem Ministerpräsidenten so das Anrecht auf das letzte Sonderspiel vor den Landtagswahlen im Januar 1995 zu.

Am Rande der Debatte wurde außerdem der bisherige Wirtschaftsminister Ernst Welteke (SPD) zum neuen hessischen Finanzminister ernannt. Lothar Klemm (SPD) wurde als neuer Wirtschaftsminister vereidigt.

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