Die Vermessung der eigenen Biodaten: Die Körperkontrolleure kommen

Hirnströme, Mundfeuchtigkeit, Taille – zwei Studenten messen sich. Ständig. Sie wollen ihr Leben verbessern. Als Teil der digitalen Quantified-Self-Bewegung.

Referent auf der Quantified Self Europe Conference im November in Amsterdam. Bild: Sebastiaan ter Burg CC BY-SA 2.0

Draußen schwanken die Temperaturen an diesem trüben Dezembertag zwischen drei und neun Grad, und drinnen hat Christian Kleineidam seinen Körper mittags um zwei schon weitgehend vermessen. Er wiegt 55,6 Kilogramm. Sein Taillenumfang beträgt 69 Zentimeter. Pro Sekunde ist seine Lunge in der Lage, 1,85 Liter Luft auszuatmen. Seine Mundfeuchtigkeit auf einer Skala von 0 bis 7 beträgt 3. Außerdem weiß er, wie er in seinem allmorgendlichen Intelligenztest abgeschnitten hat.

Kleineidam glaubt, dass ihm diese Kennziffern helfen, er trägt sie in Dateien ein und druckt sie als Graphen aus. Er glaubt, dass es Menschen voranbringen würde, wenn sie dasselbe täten. Es geht um ein besseres Leben. Was Christian Kleineidam macht, nennen Pioniere dieser kleinen digitalen Bewegung aus den USA Quantified Self, quantifiziertes Selbst. Er fasst sein Ich in Zahlenreihen und liest sein Leben als Statistik. Er kontrolliert es.

"Es geht darum, sich durch Selbsttests zu hinterfragen", sagt Kleineidam. "Und erst jetzt gibt es die technischen Möglichkeiten dafür." Seinen dünnen Körper streckt er durch. Kleineidam ist 25, er studiert Bioinformatik. Die Zentrale der deutschen Quantified-Self-Bewegung im beschaulichen Berliner Außenbezirk Spandau ist gut zwanzig Quadratmeter groß. Auf dem Boden liegt beiger Teppich, den man nicht mit Schuhen betreten darf. Man könnte den Raum auch das Wohnzimmer von Christian Kleineidam nennen.

Von hier aus wollen er und sein Mitstreiter Andreas Stadler die Idee des Selbstvermessens in ganz Deutschland populär machen. Das Ziel: Selbstoptimierung. "Persönlichkeitsentwicklung", sagt Andreas Stadler. Er fährt sich mit der Hand durch die blonden Locken, streicht über den hellen Fünftagebart am Kinn. Stadler scannt seinen Teint, überwacht seine Bewegungen im Schlaf, misst seine Gehirnströme. Wie schnell er tippt. Wann er am effektivsten für die Uni lernt.

Man kann Christian Kleineidam und Andreas Stadler als Visionäre und Vorreiter betrachten. Aber eigentlich gehen sie nur da weiter, wo viele andere längst angekommen sind. Jeder vierte Internetnutzer hat schon einmal online veröffentlicht, wie viele Kilos er auf die Waage bringt, wie weit er gejoggt ist oder unter welchen Krankheitssymptomen er leidet, hat eine Studie des US-PEW-Instituts und der Californian Healthcare Foundation festgestellt.

Technikfans, Fitnessfreaks und chronisch Kranke

Es gibt Fitnessstudios, in denen man die Ergebnisse seiner Bauchmuskelübungen auf Chips speichert, Diätportale, in denen man jeden gegessenen Joghurt vermerken kann. Die Quantified-Self-Bewegung steht dafür, es genauer wissen zu wollen – bis zur Infrarotuntersuchung von Darmregionen. Sie ist eine Mischung aus Technikfans, Fitnessfreaks und chronisch Kranken.

Deutschland ist bisher Quantified-Self-Entwicklungsland. Das wollen Christian Kleineidam und Andreas Stadler ändern. Es ist eine Mission, die zwei ungleiche junge Männer zusammengebracht hat: Kleineidam, ruhig bis an die Grenze der Schüchternheit. Praktische Funktionskleidung tragend. Seine Sätze dauern manchmal so lange, dass man Geduld haben muss.

Geschichte: Quantified Self, das gezählte Selbst, ist ein Begriff, den die US-Technikjournalisten Gary Wolf und Kevin Kelly vor einigen Jahren erfanden, um ein Phänomen zu beschreiben, das eigentlich schon älter ist: Die digitale Selbstvermessung des eigenen Körpers und Verhaltens. Gemeinsam starteten sie die Plattform quantifiedself.com. In über 40 Städten weltweit treffen sich nun Quantified-Self-Gruppen.

Idee: "Wenn wir effektiver handeln wollen, müssen wir erst einmal mehr über uns selbst wissen", sagt Gary Wolf. Selbstvermesser betrachten sich als Pioniere, glauben an das Selbstverbesserungspotenzial durch das Leben nach Zahlen. Manche entwickeln GPS-Sensoren, mit denen Asthmatiker aufzeichnen können, wann und wo sie ihren Inhalator benutzen mussten. Andere messen den Stress, den bestimmte Arbeitswege verursachen. Wieder andere probieren, was passiert, wenn sie ihren Tag auf 26 Stunden ausweiten.

Und dann Stadler, der auch studiert, der sich aber als "Hacker, Künstler und Hobbywissenschaftler" vorstellt. Der eine Vorliebe für wild gemusterte Hemden und Spiritualität hat. Dem still sitzen schwerfällt. Der redet, redet, redet – und seinem Mistreiter schon mal ungeduldig ins Wort fällt.

Kleineidam und Stadler sind zwar gerade erst öffentlich in Erscheinung getreten, aber sie müssen jetzt schon auf zwei Dinge aufpassen: dass man sie nicht als Spinner belächelt. Und dass die Angst vorm gläsernen Patienten ihre Bemühungen nicht vereitelt. Das schlimmste Label, das man ihnen verpassen könnte, wäre, dass sie für eine Art Digitalesoteriker gehalten werden, die eine Gesundheitsdiktatur errichten wollen.

Horrorszenario Gesundheitsdiktatur

Was wäre das für eine Welt, in der Krankenkassen den Versicherten Ertüchtigung vorschreiben – und das täglich kontrollieren? "Sie haben leider bereits für zwei Abrechnungsperioden die Mindestanforderungen nicht vollständig erfüllt. Bitte erfüllen Sie die Vertragsbedingungen, es ist in Ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Versichertengemeinschaft".

Solche Nachrichten erhält eine fiktive Figur im Buch "Die Datenfresser", das Constanze Kurz und Frank Rieger geschrieben haben. Auch die Schriftstellerin Juli Zeh beschwört in ihrem Roman "Corpus Delicti" eine Gesundheitsdiktatur herauf. Und linke Kritiker der Leistungsgesellschaft brummeln, was diese ständige Selbstoptimierung soll.

Die Zielgruppe für die neue Technik ist groß: Sie reicht von der Hausfrau, die ein paar Pfunde verlieren will, bis hin zu den Science-Fiction fantasierenden Technikfricklern. Christian Kleineidam und Andreas Stadler rechnen damit, dass die statistische Selbsterkenntnis noch mächtiger wird, wenn sich all diese Leute online vernetzen.

Kleineidam ist so etwas wie der Pressesprecher der Bewegung. Einen Sommer lang gab er Interviews, er ließ sich von Zeitungsreportern begleiten. Spätestens, als Fernsehteams bei ihm anfragten, wurde es ihm alles etwas viel, er brauchte Entlastung. Er erinnerte sich an Andreas Stadler, den er von einem Uniseminar kannte, wusste, dass der sich mit Hirnstrommessungen beschäftigt und gerade von den USA zurück nach Berlin gekommen war. Zusammen gründeten sie eine Quantified-Self-Gruppe bei Facebook und richteten im Herbst ein Profil bei dem Online-Organisationsdienst "Meet-Up" ein.

In seiner Wohnung schiebt Kleineidam einen DIN-A4-Ausdruck in die Mitte des Tisches. Ein Koordinatensystem mit vielen blauen Punkten. Jeder davon repräsentiert seine Lungenleistung an einem bestimmten Tag, ausgeblasene Luft in Litern pro Sekunde. Seit etwa eineinhalb Jahren macht er das. Seit einer Operation ist seine Atmung eingeschränkt. Auf dem Zettel sieht er, wann es seiner Lunge gut ging: an Tagen, an denen Kleineidam besonders viel Stress hatte, Adrenalin ausschüttete, weil er einen Zug verpasste, ein Interview gab. Oder nach einer entspannenden alternativen Heilmethode.

Hätte er sich nicht täglich getestet, sondern nur auf die Messungen beim Arzt, alle paar Wochen oder Monate, vertraut, wäre ihm das nicht aufgefallen. Seine Hausärztin habe ihn ermutigt, mit seinen Messungen weiterzumachen. Der Lungenarzt war skeptischer. "Versicherungstechnische Probleme", murmelt Kleineidam.

Die Emanzipation vom Arzt

Er ist der Prototyp eines Patienten, der mithilfe von Quantified Self sein Leiden in den Griff bekommen will. Migräne, Persönlichkeitsstörung, Schlaflosigkeit, Asthma – es gibt viele Krankheiten, über die sich Anhänger der Szene austauschen. Für sie ist das eine Form der Emanzipation vom Arzt, der sie nur alle paar Wochen ein paar Minuten lang durchcheckt und eine Standardbehandlungsmethode empfiehlt.

Kleineidam nennt das Aufklärung, im Sinne Immanuel Kants, des großen Philosophen.

Es könnte eine kleine Revolution des Gesundheitssystems werden: Ein souveräner Patient, der seine Daten in die Arztpraxis mitbringt und sich mit dem Doktor auf Augenhöhe austauschen will. Was wäre aber, wenn Krankenkassen die Kalorienzufuhr, den Alkoholgenuss und das Fitnesspensum ihrer Versicherten überwachen?

Die Infrastruktur dafür wächst schon. Fast jede Krankenkassen-Community hat ihren Online-Fitnesscoach. "Selftracking geht aber weit über Medizin hinaus", sagt Andreas Stadler. Er ist ein Bastler, der sich für Technik und das Science-Fiction-Potenzial von Selbstvermessung interessiert.

Dann erzählt er, wie er mit seiner Ernährung experimentiert hat, um seine Allergien in den Griff zu bekommen. Er stochert in einem Plastikschälchen mit Ananas-Stückchen herum. "Wenn ich Ananas esse, merke ich, wie die Neurotransmitter sich verändern", stellt er fest. Und dass sich durch Nahrung verändern würde, wie er Farben sehe.

Transhumanismus und EEG-Stirnbänder

Eigentlich würde er am liebsten mit "Metamind Evolution" angesprochen, sagt Stadler, so sei er im Netz bekannt. Andreas Stadler spricht viel von Transhumanismus. Laut dieser Denkrichtung kann der Einsatz von Technik die Lebensqualität verbessern. Er hat ein Stirnband mit EEG-Sensoren entwickelt, die elektrische Hirnströme messen und auf Bildschirmen darstellen. So könne man lernen, seine Hirnströme zu kontrollieren, erläutert er.

Manchmal klingt das, was er sagt, wie Science-Fiction. Aber die Technik entwickelt sich zurzeit so rasant. Was heute wie Spinnerei klingt, könnte es morgen schon in irgendeinem Onlineshop geben. In anderen Momenten kann Stadler ganz bodenständig erklären, was er tut. "Eigentlich ist das, was wir machen, wie ein Kaffeekränzchen", sagt er. "Nur professioneller."

Es gehe um den Austausch. Zentralorgan der internationalen Selbstvermesser ist quantifiedself.com – in den Foren besprechen hunderte Selbstvermesser Projekte. Man sieht dort, wie in den vergangenen Monaten die Zahl der Treffen überall auf er Welt zunimmt. Im November wurde eine Quantified-Self-Konferenz in Amsterdam veranstaltet. In San Francisco gibt es schon länger Treffen von Selbstoptimierern.

Oktober 2011. Im Co-Working-Space "Parisoma", einem dieser Gebäude, wo Programmierer und Entwickler zusammenarbeiten. Im Erdgeschoss sind alle Stühle besetzt, als Leo Babauta über "Habit Design" spricht – Verhaltensänderungen dank akribischer Selbstbeobachtung. Es geht auch um Technik, aber es geht vor allem um das Prinzip.

Dort, wo tagsüber Jungunternehmen ihre neuen Geschäftsideen mit Filzstiften an Wandtafeln skizzieren, sitzt Babauta mit schlenkernden Beinen auf einem Barhocker, breite Schultern im olivgrünen T-Shirt. Vor sechs Jahren sei er tief verschuldet gewesen. Ein gestresster, rauchender, fetter Fastfood-Junkie. Dann habe er begonnen, Marathon zu laufen. Besser zu essen, zu organisieren. So dass Beruf und sechs Kinder in sein schlankeres Leben passen.

Babauta grinst in die Runde, die Hände entspannt im Schoß, den Rücken durchgedrückt. "Vereinfachen", predigt er seinen Zuhörern. Das eigene Verhalten analysieren – und sei es nur mit Zettel und Stift. Sich immer nur einen Lebensaspekt vornehmen. Babauta verdient jetzt Geld damit, anderen Leuten zu helfen, sich selbst zu ändern. Ein Mann in der ersten Reihe nickt bei jedem Satz.

Übergewicht als gemeinsamer Nenner

Unzufriedenheit mit der Krankheit, mit dem Körper, das ist die Motivation, die die Bewegung wachsen lassen könnte. Das Übergewicht als gemeinsamer Nenner. Später referieren andere Zuschauer spontan ihre Selbständerungsprojekte. Es wird diskutiert, es gibt Wein.

Mitte Dezember laden auch Christian Kleineidam und Andreas Stadler in Berlin zum ersten Treffen von Quantified Self in Deutschland. Sieben Gäste finden an diesem verregneten Samstagnachmittag den Weg aus dem Internet in die Räume des Chaos Computerclubs. Eine Frau stellt gleich zu Beginn eine Frage wie eine Mauer in den Raum. Sind die Sorgen angesichts dieser dauernden Selbstüberwachung nicht berechtigt?

Dann laufen die Dinge doch gut für die Vermessungsaktivisten, schon weil dieselbe Frau von einem Kurs an der Universität der Künste erzählt: "Bei uns im Seminar waren anfangs alle dagegen. Und dann haben sie lauter Geschäftsmodelle dafür entwickelt."

Ein Langhaariger fragt, ob jemand Tipps für die Messung von Körpertemperatur habe – er wolle prüfen, ob Menschen, die sich nur von Rohkost ernähren, wirklich eine niedrigere Körpertemperatur hätten. Ein Körper, der viel Gekochtes verdaue, besage eine Theorie, befinde sich ständig in einem leichten Fieberzustand. Bislang seien nur Rektalmessungen exakt gewesen. Aber das sei etwas unpraktisch, alle halbe Stunde das Thermometer in den Po.

Die Leute nicken interessiert, als Andreas Stadler erzählt, wie er vor fünf Jahren angefangen hat, seine Hirnströme zu vermessen: "Da sahen die aus wie bei einem ADHS-Patienten." Auch als er referiert, wie er gelernt hat, seine Hirnströme bewusst zu steuern, wie man mit deren Hilfe elektronische Musik erzeugen kann, Depressiven helfen und in ein paar Jahren vielleicht sogar das Computerspiel Counterstrike über das Hirn steuern kann, steigen sie nicht aus. Am Ende fordern sogar einige Hausaufgaben – Tipps, welche Trackingmaßnahme sie bis zum nächsten Treffen ausprobieren könnten. Das Interesse ist da, die Sache läuft langsam an.

Ein paar Tage später müssen sie in der Facebook-Gruppe einen kleinen Rückschlag diskutieren. Die Bild-Zeitung hat Quantified Self entdeckt. Und fragt: Kann man davon süchtig werden? Sie beschließen, das als Zeichen journalistischer Inkompetenz zu betrachten.

Immerhin haben sie einen mächtigen Mitspieler, der ihre Bemühungen unterstützt: den Markt. Investoren aus dem Silicon Valley pumpen Millionen in die Branche. Große Sportartikelhersteller wie Nike und Adidas verkaufen Geräte, mit denen Jogger Laufgeschwindigkeit oder Herzschlag erfassen, auf Homepages statistisch auswerten und mit der Community teilen. Allein bei Nike nutzen diese Form der Selbstbeobachtung mehr als vier Millionen Menschen. Zahllose andere Apps und Geräte versprechen Knackärsche und ein gesünderes Leben. Den persönlichen Fitnesstrainer gibt es als Stick für die Hosentasche.

Auf dem Sprung in den Massenmarkt

Je leistungsfähiger und preiswerter Chips und Sensoren werden, desto mehr Geräte fluten den Markt. Es gibt Armbänder, die vibrieren, wenn ihr Träger sich zu lange nicht bewegt hat. Apps, mit denen man seine Stimmung oder den Redeanteil in einem Gespräch messen kann. Selbst der Apple Store verkauft digitale Blutdruckmesser. Quantified Self stehe "vor dem Sprung von der Nische in den Massenmarkt", erklärt Florian Schumacher, 31 Jahre alt.

Er nutzt viele dieser Geräte und Apps. Wenn er morgens aufsteht, steckt er sich sein Fitbit an - ein Schrittzähler, so lang und breit wie ein Finger. Jeden Abend kann Schumacher feststellen, wie viel er an diesem Tag gelaufen ist. Er betrachtet das als Ansporn. Durchschnittlich läuft er sechs bis sieben Kilometer pro Tag. Und immer mehr Treppen. "So habe ich Fitness in meinen Alltag integriert", sagt er – als träte er im Werbefernsehen auf.

Schumacher ist der Münchner Vertreter der Bewegung. Beim ersten Berliner Treffen war er per Skype zugeschaltet. Wenn Florian Schumacher sich schlafen legt, schnallt er sich ein EEG-Gerät namens Zeo um den Kopf, das misst, wie lange er wie fest geschlafen hat. Er merkte, dass er tiefer schläft, wenn er bis spät in die Nacht gearbeitet hat, anstatt einen Film zu schauen. "Sensoren testen, darüber bloggen, das ist für mich ein Hobby", sagt er. Als Unternehmer und Produktentwickler arbeitet er im Umfeld der Selbstvermesserbranche.

Die Mehrheit der Menschen in seinem privaten Umfeld finde das noch "befremdlich". Aus Angst vor Überwachung eben, glaubt Schumacher. Oder weil es "pedantisch" wirke, sich selbst so diszipliniert zu beobachten.

Christian Kleineidam argumentiert dagegen an. Seine Tante habe sich gesorgt, dass er zu sehr in die Welt der Zahlen abtauche. Bis er ihr erklärte, dass er über die Selbstvermessung mit vielen Gleichgesinnten in Kontakt käme, über Ergebnisse und Gefühle spräche. Die Kritik am gemessenen Selbst kommt nicht nur von technikfernen Tanten, sondern auch aus der Netzcommunity.

Manche kanzeln alles als blödsinnige Spielerei ab. Wird man gar technikhörig? Wem gibt der Selbstvermesser recht, wenn er sich morgens gut erholt fühlt, sein Sleepcoach ihm aber eine miese Nacht bescheinigt? Und natürlich die Datenschutzfragen. Wem gehören die sensiblen selbst erhobenen Gesundheitsdaten? Wer darf auf sie zugreifen? Wie verhindert man, dass Staat und Wirtschaft sie missbrauchen?

Bisher dürfen Krankenkassen in Deutschland wegen strenger Gesetze wenig mit Kundendaten anfangen. Personalisierte Auswertung von digitalen Fitnesscoaches ist verboten. Aber muss das so bleiben?

Auch Sex wird vermessen

Bei der US-Firma Fitbit konnten Nutzer auch Sex als körperliche Aktivität in ihr Community-Profil eintragen. Wie lange, wann, wie anstrengend – all das konnte jeder einfach googeln. Da standen plötzlich tausende nackte Nutzer im Netz. Fitbit reagierte sofort und schaffte die Rubrik ab. Der Imageschaden blieb. "Das ist wie Kernenergie: Man kann das falsch nutzen. Muss man aber nicht", sagt Andreas Stadler.

Ihm sind die Datenschutzrisiken von Quantified Self bewusst. Für ein kommerzielles Unternehmen sind diese sensiblen Gesundheitsinformationen am Ende nur Teil eines Geschäftsmodells. Darum setzt sich Stadler dafür ein, Geräte und Software zu nutzen und zu entwickeln, die Open Source sind. Produkte mit freier Software, hinter der meist keine großen Firmen stehen, so dass der Nutzer die Kontrolle über seine Daten behält. Quantified Self soll dem Einzelnen mehr Macht durch Selbsterkenntnis verleihen. Und ihn nicht im Dienste anderer komplett überwachen.

Stadler und Kleineidam ist trotzdem klar, dass das Interesse an den Körperdaten der Selbstvermesser zunehmen wird. Wer trinkt, raucht, wer bewegt sich zu wenig, wer isst zu viel? Wer hört auf den Arzt? Wer nicht gesund genug lebt, könnte irgendwann einmal bei der Krankenversicherung mehr zahlen oder auf andere Art sanktioniert werden. "Wenn die Technik da ist, wird das kommen", sagt Stadler und nickt. Auch er spricht von einer "gesundheitlichen Diktatur". Umso wichtiger sei der Open-Source-Gedanke. "Wir müssen da eine zivilgesellschaftliche Stimme aufbauen", ergänzt Kleineidam. "Politisch mitgestalten."

Dann, Ende Dezember, ihr großer Auftritt: Kleineidam und Stadler halten beim Jahrestreffen des Chaos Computer Clubs einen Vortrag. Ein Leben mit Zahlen dürfte den versammelten Hackern nicht fremd erscheinen, sie sind zwischen Nullen und Einsen zu Hause. Ein scheinbar perfektes Forum für die beiden Selbstvermessungsmissionare.

"Bizarre Show"

Aber es läuft nicht. Kleineidam quält sich auf Englisch durch ein Projekt, bei dem jemand festgestellt hat, dass er Mathematikaufgaben schneller löst, wenn er 60 Gramm Butter am Tag isst. "Glaubt mir nicht! Testet es selbst!" steht auf einer Folie seiner Präsentation. Als Andreas Stadler beginnen will, streikt die Technik. Er hat eine dunkle Sonnenbrille vor den Augen und seinen Hirnstrommesser auf dem Kopf. Er wird nervös, rast durch seine Präsentation, verschluckt halbe Sätze. Im Publikum beugen sich die Leute über ihre Smartphones und Rechner, um bei Twitter über diese "bizarre Show" zu lästern. Fragen, ob das "Comedy" sein solle.

Um Mitternacht ist der Vortrag vorbei. Die restlichen Zuhörer verlassen kopfschüttelnd den Raum. "Nicht unbedingt komplett ideal gelaufen", analysiert Stadler später in der Facebook-Gruppe. Dafür aber, sagt Christian Kleineidam, sei es am Ende dann doch wieder "ganz gut gelaufen". Es habe auch positives Feedback gegeben.

Noch im Januar will er zum nächsten Treffen von Quantified Self in Berlin einladen. Und vor ein paar Tagen kam die Nachricht aus München: Am 1. Februar wird es dort das erste Treffen geben – organisiert von Florian Schumacher und zwei Mitstreitern. Sie werden mehr.

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