: Die Verfehlungen der leichtfertigen Blondine
Eine Alfred-Hitchcock-Hommage im Filmkunsthaus Babylon zeigt vor allem unbekannte Filme des Regisseurs ■ Von Lars Penning
Die Großaufnahme einer kreischenden Frau, deren blonde Locken das Bild ausfüllen. Schnitt auf die Leuchtreklame einer Show: „To-Night Golden Curls“. Und schließlich: die Tote in der Nähe des Themseufers – ein weiteres Opfer des Serienkillers. So beginnt „The Lodger“ (1926), nach eigenem Bekunden des Regisseurs der „erste richtige Hitchcock-Film“. Das Filmkunsthaus Babylon zeigt ihn jetzt gemeinsam mit anderen unbekannteren Werken der englischen Schaffensperiode Hitchcocks aus Anlass seines einhundertsten Geburtstags.
Bereits „The Lodger“ spiegelt wider, was Hitchcock als Regisseur auszeichnete: das Bemühen um eine visuelle Ausdrucksweise, der Sinn für das Makabre und die Fähigkeit, das Publikum emotional zu beteiligen. Erstmals führt Hitchcock in „The Lodger“ den unschuldig Verfolgten ein: In einem packenden Finale bleibt der fälschlich als Killer verdächtigte „Mieter“ auf der Flucht mit seinen Handschellen an einem Eisengitter hängen und wird beinahe von einem wütenden Mob gelyncht.
Die berühmteste Einstellung des Films entspringt Hitchcocks Wunsch, den damals noch fehlenden Ton zu visualisieren: Als einmal der Kronleuchter des Vermieterehepaares zu schaukeln beginnt, kann man plötzlich durch die Decke sehen. Durch einen Glasfußboden fotografiert, erkennt man den Mieter, der in seinem Zimmer auf und ab geht.
Wie in „The Lodger“ lassen sich auch in „Easy Virtue“, der 1927 nach einem Theaterstück von Noäl Coward entstand, Motive ausmachen, die Hitchcock in späteren Filmen (etwa „Berüchtigt“ (1946) variiert hat: die sexuelle Leichtfertigkeit der Frau, ihre Ehe mit dem Muttersöhnchen, die Familie als Hort des Unbehagens.
„Easy Virtue“ erzählt die Geschichte einer leichtlebigen Frau: Larita, eine mondäne Dame der Londoner Highsociety, wird schuldig geschieden, nachdem ein in sie verliebter Maler zunächst auf ihren gewalttätigen Gatten schoss und anschließend den Freitod wählte. Um dem Gesellschaftsskandal zu entkommen, reist Larita an die Côte d'Azur, einen Schauplatz, den Hitchcock in „Rebecca“ (1940) und „Über den Dächern von Nizza“ (1955) aufleben lassen wird. Dort lernt sie John kennen, der sich in sie verliebt und ihr einen Heiratsantrag macht. Von ihrer Vergangenheit will er nichts wissen – wie später in „Rebecca“ und „Verdacht“ (1941) werden zwei Menschen ein Paar, die einander kaum kennen. Ihr Irrtum wird deutlich, als die beiden nach England zurückkehren: Larita ist in der konservativen Atmosphäre von Johns Elternhaus fehl am Platz, der Gatte steht unter der Fuchtel seiner Mutter. Hitchcock inszeniert Szenen voller Suspense: Irgendwann muss den Familienmitgliedern Laritas Vergangenheit zur Kenntnis gelangen, aber wie werden sie reagieren?
Erstmals stellt Hitchcock in „Easy Virtue“ auch den Typ der tyrannischen Mutter vor, wie er später in „Berüchtigt“ und – im übertragenen Sinn – in „Psycho“ (1960) seine schönsten Ausprägungen fand: Hitchcock plaziert die Mutter bei ihrem ersten Auftritt an das Kopfende einer Treppe und übernimmt mit der Kamera ihren Blick. Neben Larita bekommt sie als einzige in dieser Sequenz eine Großaufnahme: schmaler Mund, straffe Frisur und stechender Blick – ein Bild des Terrors.
Wie in „Easy Virtue“ ist es auch in Hitchcocks erstem Tonfilm „Blackmail“ (Erpressung, 1929) die Leichtfertigkeit der Frau, die ins Unglück führt. Erstmals kombiniert Hitchcock die sexuelle mit krimineller „Schuld“: Alice (Anny Ondra), eigentlich mit einem Inspektor von Scotland Yard verlobt, lässt sich von einem Maler überreden, mit in seine Wohnung zu gehen. Als sie sogar ihre Kleider ablegt, um ein Ballettröckchen anzuprobieren, geht alles Schlag auf Schlag: Der Maler wird zudringlich, Alice ersticht ihn mit einem Messer. Und der Verlobte, der mit der Aufklärung des Mordes betraut wird, vertuscht die Sache gegen Alices Willen. Letztlich werden ihre Verfehlungen ewig zwischen ihnen stehen. Hitchcock hatte „Blackmail“ bereits teilweise als Stummfilm abgedreht, als der Tonfilm die britischen Ateliers erreichte. Und so ist „Blackmail“ auch ein Dokument früher Experimente mit dem Ton: Während Alice am Morgen nach der Tat mit ihren Eltern im Zimmer hinter ihrem Laden beim Frühstück sitzt, tratscht eine aufdringliche Kundin über den Mord. In Alices Bewusstsein wird das Gerede jedoch zu einem unverständlichen Gemurmel, aus dem sich das ständig wiederholte Wort Messer umso schärfer heraushebt.
Doch in „Blackmail“ finden sich auch schöne visuelle Ideen, die Alices Schuldbewusstsein verdeutlichen: Als sie nach dem Mord verwirrt durch die Straßen läuft, wird sie durch die Handhaltung einer Schaufensterpuppe und die ausgestreckte Hand eines Bettlers immer wieder an die schlaffe Hand des Toten erinnert.
„The Man Who Knew Too Much“ (1934) nimmt in Hitchcocks Werk eine singuläre Stellung ein, handelt es sich doch um den einzigen Film, von dem der Regisseur ein (heute sehr viel bekannteres) amerikanisches Remake fertigte. Und obwohl die Geschichte die gleiche ist – Attentäter, die einen Staatsmann ermorden wollen, kidnappen das Kind eines Ehepaars, das zufällig zu viel erfahren hat – unterscheiden sich die beiden Fassungen doch wesentlich: Die britische Version gestaltet sich erheblich temporeicher und witziger, nicht zuletzt, weil Peter Lorre (mit weißer Haarsträhne und einer Narbe auf der Stirn) als Anführer der Agenten und Leslie Banks als forscher Vater ihre Bösartigkeiten mit formvollendeter Höflichkeit austauschen. Vor allem aber hatte Hitchcock mit „The Man Who Knew Too Much“ das Motiv gefunden, das er von nun an in unzähligen Filmen so erfolgreich variieren sollte: Die Geschichte vom Durchschnittsbürger, der sich plötzlich in einer bizarren Situation wiederfindet.
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