: Die Verfassung verteidigen
Zum Versuch Bonns, eine neue DDR-Verfassung zu unterbinden ■ K O M M E N T A R E
Das Wort vom „Anschluß“ hat keine kritische Potenz mehr. Sicher auch deswegen, weil die Linke in ihrer Allergie gegen die Einheit und in ihrem bedenkenlosen Gebrauch von Vergleichen mit dem Nationalsozialismus, diesen Begriff inflationär verwendet hat. Was soll man aber sagen, wenn Bonner Ministerialbeamte in einer Expertenkommission zur Ausarbeitung einer neuen DDR-Verfassung freundlich aber unnachsichtig klarmachen, daß der Staatsvertrag jeder künftigen, jeder denkbaren DDR-Verfassung übergeordnet ist? Was soll man davon halten, wenn man zudem weiß, daß es weder bei Ausarbeitung, noch im Text des Staatsvertragsentwurfes eine Gleichrangigkeit der Vertragspartner gibt? Kurt Biedenkopf hat es in einem internen Gutachten moniert. „Wie eine Lawine“ (Hans-Peter Schneider) drückt Bundesrecht DDR -Recht weg. - Die Verfassung ist Ausdruck der Volkssouveränität, Codex der Selbstbestimmung. Der Versuch, die Fragen einer DDR-Verfassung dem Staatsvertrag zu unterwerfen, wird schon sehr bald zu den beschämendsten Vorgängen auf dem Weg zur Einheit zählen. Er ist nichts anderes als rüde Mißachtung der Selbstbestimmung. So regelt das Mutterland die Rechtsgleichheit mit den Kolonien.
Es geht der Bundesregierung um die Niederschlagung der Verfassungsdiskussion in beiden Deutschlands. Die politischen Werte der Bonner Koalition lagen ja immer mit der verfassungsrechtlichen Entwicklung im Konflikt. Auf dem Weg über den Staatsvertrag gestaltet sich die Bonner Exekutive die Verfassungswirklichkeit des geeinten Deutschlands. Eine Handvoll DDR-Experten, „Verfassungspatrioten“ im wahrsten Sinne des Wortes, führt einen aussichtslosen Kampf gegen die Zeit und gegen das donnernde Schweigen der liberalen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik. Noch nie war die Kontrolle der Exekutive so wichtig, noch nie waren die Kontrolleure so verdorben, bequem und uniformiert. Staatstragend und einheitsträchtig beten sie nach, daß das Grundgesetz die beste Verfassung aller Zeiten sei. Aber ohne eine kritische Öffentlichkeit ist sie auch nur geduldiges Papier. Was ist das Grundgesetz wert, wenn's nur Lendenschurz für den unverhüllten Wunsch ist, die Bedingungen zu diktieren, unter denen die DDR ins D -Mark-Reich aufgenommen wird? Primat des Staatsvertrags gegenüber der DDR-Verfassung heißt Einigung bei Verlust selbstverständlicher Rechte, Entwertung der Vorstellung der sozialen Marktwirtschaft, Unterwerfung der öffentlichen Haushalte der DDR-Länder unter das Bundesfinanzministerium. Dieses geeinte Deutschland kann die Mehrheit hüben und drüben nicht wünschen. Sie muß nur die Chance haben es so schnell zu erkennen, wie es von Bonn aus „gestaltet“ wird.
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen