■ Die Vereinigten Staaten als Hort der kulturellen Rückständigkeit: Lange gerichtet und nun hin-gerichtet
Nun sind sie hin, die Brüder LaGrand – seit langem schon gerichtet, wurden sie jetzt hin-gerichtet. Man hat sie liebgewonnen in der letzten, kurzen Zeit, in der man sie wahrnahm. Nach ihrer langen Haft, die schon das Strafmaß überschritt, das ihnen als jugendlichen Tätern in Deutschland gedroht hätte, standen sie nicht als Verbrecher da, sondern als Opfer einer brutalen Mentalität, die die westliche Kulturgemeinschaft eigentlich längst hinter sich gelassen haben sollte. Ihr Blick – der besondere, existenziell tiefe Blick derer, die den Schutz ihrer Gemeinschaft verloren haben – hat sich über ihren Tod hinaus in unsere Gehirne eingebrannt.
Für die Deutschen ist das Aufregende an dem Fall LaGrand, daß sie die Amerikaner, die sie sonst als die Voranschreitenden erleben, in dieser Frage hinter sich sehen – im kulturellen Rückschritt. Der Fall ergänzt das, was schon der Fall Clinton zeigte: Die Vereinigten Staaten verkörpern nicht nur die Moderne, sondern auch die Rückständigkeit. Der Humanismus der Moderne, der westliche Universalismus, hat in keinem Land der Erde eine zuverlässige nationale Vertretung. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn er sich automatisch mit der Macht, die uns 1945 von der Barbarei befreit hat, entfaltete. Es wäre zu bequem, wenn er einfach durch die Anpassung an die Siegermacht weitergeführt werden könnte. Humanismus muß weiterhin als politisch ungeschütztes Menschheitsprojekt aufgefaßt werden.
Der Widerwillen gegen die Todesstrafe ist noch immer ein kultureller Vorgriff. Das Tötungstabu dehnt sich zwar in den letzten Jahrtausenden immer mehr aus, hat aber bisher keine absolute Geltung. Noch immer gibt es die Unterscheidung zwischen einer Binnen- und einer Außenmoral: Nur wer sich innerhalb einer Gemeinschaft befindet, genießt den absoluten Schutz seines Lebens. Der Mörder wird exkommuniziert und genießt das Menschenrecht auf Leben ebensowenig wie der Ausländer im Krieg. Die Universalisierung dieses Rechts, seine Loslösung von der Binnenmoral, ist eine noch nicht zu Ende geführte Menschheitsaufgabe.
Die deutschen Gefühle gegenüber den hingerichteten Brüdern befinden sich in einer merkwürdigen Position zwischen diesen beiden Moralen: Sie richteten sich aus allgemein menschlichen Gründen gegen die Todesstrafe, aber sie fühlen sich besonders verletzt von dieser Hinrichtung, weil sie deutsche Staatsangehörige betraf. Sie sind deshalb einerseits ein Vor- und andererseits ein Rückgriff. Sibylle Tönnies
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