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Die Uni als gebrauchter Ort

Anstatt Studierende schnell zum verwertbaren Abschluß zu drängen, sollten sich die Universitäten zu offenen think tanks reformieren  ■ Von Berliner Studenten

Über ein Drittel der Schüler eines Altersjahrgangs macht Abitur. Diese, landläufig auch als „Reifezeugnis“ bekannte Eintrittskarte berechtigt sie alle zum Besuch des Spektakels Universität. Gerade wegen der dabei auftretenden Widrigkeiten finden die jungen Menschen in den Unis immer noch einen vielversprechenden Zeitvertreib – die Sucht nach Abenteuer ist spielbestimmend.

Nach unbestätigten Berechnungen verdoppelt sich das „Wissen“ der Welt heute alle sechs Jahre. Gleichzeitig erweisen sich ganzheitliche Problemlösungen so notwendig wie nie. Naturwissenschaften und Medizin kooperieren eng und erfolgreich mit einem real existierenden, milliardenschweren Markt. Geisteswissenschaftliche Erkenntnis aber wird von Politik und Gesellschaft nicht einmal mehr abgefragt.

Fragen von Ökologie und Demokratie haben längst fächerübergreifenden Bedeutung. In Studienprogrammen tauchen sie bestenfalls am Rande auf. Universitäten prägen immer weniger die Wirklichkeit. Wahrscheinlich reflektieren sie sie nicht einmal mehr in ihren unzählbaren Ergüssen.

Früher ging man, und zwar in Ost und West, zur Universität der „intellektuellen Bereicherung“ wegen. Man bekam dafür automatisch, quasi nebenbei, einen Job. Heute ist die Akademikerarbeitslosigkeit zur Normalität geworden. Reformen an der Universität sind notwendig! Die Politik will den Universitäten die Gelder kürzen und ihre Autonomie beschneiden. Damit sollen sie den Anforderungen von morgen gewachsen sein? Offensichtlich ist, daß die Universitäten in Westdeutschland während der letzten 25 Jahre nicht in der Lage waren, sich selbst zu reformieren. Und die Chance der Einheit, ein neues Wissenschaftssystem aufzubauen, ist vertan. Die Osthochschulen wurden Westhochschulen.

In dieser Situation müssen die Universitäten beweisen, daß sie aus sich heraus zu einer Reform kommen: sie müssen ihre Autonomie inhaltlich rechtfertigen. Unverzichtbar wären dabei folgende Elemente: Die Universitäten müssen endlich auf die große Anzahl von Studierenden mit einem differenzierten und transparenten Angebot an Studiengängen reagieren – ein erheblicher Ausbau der Teilzeitstudien tut not: abends, aus der Ferne, als Weiterbildung.

Finanzmittel dürfen nur noch aufgrund eines Leistungskatalogs vergeben werden. Darin müßten zuerst die Ergebnisse von Lehrevaluationen durch Studierende maßgeblich sein. Und erst dann Forschungsergebnisse und die Anzahl und Qualität von Veröffentlichungen. Die Hochschulen brauchen endlich Demokratie! Studierende wie ProfessorInnen, wissenschaftliche wie nicht-wissenschaftliche MitarbeiterInnen müssen gleichberechtigt an der Gestaltung ihrer Hochschule mitwirken. Die Universitäten dürfen sich nicht damit begnügen, möglichst viele Studierende in möglichst kurzer Zeit zum Abschluß zu drängen. Aufgabe einer Hochschule ist es vielmehr, daß sie den Studierenden und ProfessorInnen die Möglichkeit gibt, frei von politischen und wirtschaftlichen Zwängen Problemlösungen zu entwickeln, die gesellschaftliche Relevanz haben. Dazu müssen die Studiengänge entschlackt und neubestimmt werden, und zwar von innen heraus. Es könnte Raum geschaffen werden für eine angemessene Behandlung sozialer und ökologischer Fragen. Studienpläne müssen wieder ein erkennbares Ganzes ergeben. Nur so werden Universitäten wieder zu den höchsten Bildungsinstitutionen.

Die an die Hochschulen kommenden Erstsemester brauchen eine intensivere Studienbetreuung. Sie muß, etwa durch Erstsemestergruppen, mehr auf ihre individuellen Probleme und Fragen eingehen, als es bisher von den meisten Unis angeboten wird. Und auch die politische Bildung, nach 1945 ein sine qua non universitären Studiums, muß wieder ihren Stellenwert erhalten.

Das sind keine neuen Weisheiten. Die Angst des Einzelnen schwindet im überschaubaren Verband. Wissen nehme ich an, wenn ich einen Bezug zu meinem Alltag herstellen kann.

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Die Universitäten, an sich Orte gesellschaftlicher Reflexion, vernachlässigen sträflich die wissenschaftliche Arbeit an elementaren Zukunftsaufgaben. Die professorale Forschung bleibt ungestört vom Impetus gesellschaftlicher Gruppen und dem Innovationspotential der Studierenden. Sie nimmt nur schleppend in Angriff, was unsere Zukunft entscheidend bestimmt: die Entwicklung von Handlungsoptionen für die globalen Problemfelder wie etwa die Beseitigung des weltwirtschaftlichen Mechanismus, der den mörderischen status quo zwischen Nord und Süd aufrechterhält. Oder die Entwicklung hin zu einer ökologisch verträglichen Marktwirtschaft – was nicht möglich ist, ohne daß die Lösung der Energie- und Verkehrsprobleme auf eine soziologische, also nichttechnische Art, angegangen wird.

Im Gegensatz dazu forschen Wissenschaftler nicht an brandaktuellen Problemfeldern, sondern an Prestigeobjekten. Deren Nutzen ist höchst fragwürdig: zum Beispiel die Forschung an immer kleiner und kurzlebiger werdenden Materieteilchen, am Raumgleiter Hermes und am Kernfusionsreaktor. Die finanziellen und geistigen Kräfte werden auf „exotische“ Gebiete konzentriert. Der Nutzen, den die Hochschule für die Gesellschaft haben könnte, und in Teilbereichen noch hat, tritt mehr uind mehr in den Hintergrund.

Einige Kräfte treten dieser Sinnentleerung von Hochschule entgegen und verwirklichen „alternative“ Wissenschaft. Zum Beispiel an der Technischen Universität Berlin. Nicht nur von Seite der Studierenden, sondern auch von etablierten Wissenschaftsgremien beachtet, gibt es dort seit 1985 die „Projektwerkstätten“. Unter dem Dach der Projektwerkstätten arbeiten Studierende in Gruppen und unabhängig von Professoren an verschiedenen Themen – angefangen von dem Energieseminar bis hin zur Katastrophenwerkstatt. Auch die Freie und die Humboldt- Universität haben das Modell inzwischen kopiert.

Aber leider erweisen sich Verbesserungen in Lehre und Studium als langwierig und äußerst schwierig: Jegliche Entscheidung an den Unis wird von einer Mehrheit von Professoren kontrolliert.

An dieser schroffen Klippe, der Majorität der professoralen Statusgruppe, ist schon so manches Reformprojekt zerschellt. Die engagierten Träger der Reforminitiative bleiben anschließend desillusioniert zurück und wenden sich dankbareren Betätigungsfeldern zu. Dieser Verschleiß an Idealen, Initiative und Mut von Menschen gehört als ein verstecktes Curriculum ebenso zur „Ausbildung“ der Absolventen wie das regulär erworbene Wissen.

Die einzige Strategie, die langfristig zur Verbesserung der Reformfähigkeit von Hochschulen führen kann, ist: die Revision des Verfassungsgerichtsurteils von 1972, das auf die Professoren als Träger der Wissenschaft setzt. Da dies unter den herrschen politischen Kräfteverhältnissen nicht möglich ist, bleibt nur eins: die öffentliche Debatte um die inhaltliche Ausrichtung von Wissenschaft in unserer Gesellschaft neu zu beleben – um die Kompetenzen von gesellschaftlichen Gruppen im Prozeß der Festlegung von Forschungsthemen zu stärken und Nichtprofessoren als Träger von Wissenschaft zu etablieren.

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Hochschulen haben im wesentlichen zwei Funktionen: Sie „stellen“ durch Forschung Wissen her. Und sie bilden Studierende (aus). Die AkademikerInnen werden dabei immer stärker auf die im Berufsleben zu erwartenden Anforderungen hin geformt. Das reduziert alle Bildungsziele, die in den Universitäten verfolgt werden, auf bloße Reproduktionsaufgaben. Der persönlichkeitsentwickelnde Prozeß der Einzelnen wird, wenn überhaupt, als unvermeidbarer, aber überflüssiger Unsicherheitsfaktor der sonst zum Lernen, Gehorchen und Pflichterfüllen erzogenen Eleven empfunden.

Könnten sie, skandinavischen Beispielen folgend, sich kritisch mit den Lehrenden auseinandersetzen und durch realitätsbezogene Problemstellungen die eigene Lösungssuche zum Gegenstand des Lernens erheben, wäre die Zeit der Hörsäle wie der übervollen Bibliotheken wohl vorbei. Eine neue Form universitären Lernens, das universitäre Denken wäre, geschaffen.

Alle an der Universität Beteiligten bringen ihre Persönlichkeit, auch ihre Konflikte, in den Prozeß des gemeinsamen Denkens und Handelns mit ein. Allein durch diese Öffnung der Hochschulen nach innen fallen unzählige Schranken in den Köpfen. Die Freiheit, eine Meinung zu haben und – als einzigen Druck – auch zu ihr zu stehen, erforderte die Durchbrechung sämtlicher gewachsener, vorhandener Hierarchien. Sie zwingt alle Kompetenzen in die Hände der jetzt als kompetent Erachteten zu legen. In der Befreiung der starren, dogmatisierten Lehr- und Prüfungsordnungen liegt die ungemein wertvolle Möglichkeit, den eigenen Kopf als Motor auf der Strecke vom Problem zur Lösung zu erkennen. So könnte die kritische und vor allem gleichberechtigte Auseinandersetzung mit Anderen gelernt werden – und damit den Respekt vor dem Anderen über das Konkurrenzdenken gegen ihn zu stellen.

Die Hochschulen müssen sich, zweitens, nach außen öffnen. Die Bildungseinrichtungen dieses Landes müssen den Brückenschlag schaffen von der Wissensverwaltung hin zum Reflektieren und Bearbeiten gesellschaftlicher Probleme. Die akademische Inzucht, das bloße Weiterreichen und Abprüfen von Fakten und überkommenen Erkenntnissen wiche der Konfrontation mit außeruniversitären Entwicklungen und führte zu einer Reintegration der „geistigen Elite“ in die hiesige Welt.

Beide Prozesse, die Aufwertung des eigenen Geistes der Beteiligten wie die Beteiligung außeruniversitärer Interessengruppen an der Wissenschaft, versetzten die Universitäten in eine neue Position: sowohl für den Einzelnen wie auch für die Allgemeinheit ein gebrauchter Ort zu sein. Die Lernenden gebrauchen diesen Ort zur persönlichen Reifung, zur Sättigung ihrer Neugier, zum Erlernen des kritischen Arbeitens sowie der demokratischen Auseinandersetzung mit Anderen. Und die Gesellschaft braucht diesen Ort, um Lösungsansätze und Antwortmöglichkeiten Fragen einzuholen, die sie bedrängen.

Dieser offene think tank, und das ist wohl der größte Widerspruch zur bundesrepublikanischen Realität, wird durch keinerlei Vorgaben von politischen EntscheidungsträgerInnen oder hierarchischen Strukturen gelenkt, sondern durch gleichberechtigte Ideen und Fragen von innen und außen.

Die Abwertung des Strebens nach Effizienz kann die unheilvolle Reduktion der Wissenschaft wie des Studierens auf vorzeigbare Ergebnisse und quantitative Lernerfolgsbescheinigungen aufhalten. Sie ermöglicht unserer technisierten, kapitalorientierten Welt eine Selbstreflektion und Handlungsvorschläge, die selbst Dogmen wie Gewinnmaximierung und ewige Wirtschaftlichkeit hinter die eigentlich elementaren Bedürfnisse der in ihr Lebenden zu stellen vermögen. So frei muß Wissenschaft sein dürfen. Sie muß beides: den Raum bieten zur reinen Geistigkeit, und den Mut besitzen, Halt zu sagen. Die mit ihr Beschäftigten müssen ihrer Entmündigung enthoben werden, so daß fortan Kritik und Andersdenken nicht als Querulanz, sondern als Tugenden gelten.

Studenten der Freien, der Humboldt- und der Technischen Universität: Peter G. Dirk, Dirk Jacobs, Stefan Höfler, Olaf Nimz und Sven Vollrath

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