piwik no script img

Die Umgangsformen des Terrors

Über den russischen Attentäter, Politiker, Schriftsteller Boris Sawinkow  ■ Von Winfried Roth

Ich sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach neun. Sasonow lächelte, drückte Sikorskij die Hand und ging mit raschem Schritt der Hauptstraße zu. Kaljajew rührte sich immer noch nicht von der Stelle. ,Janek!‘ sagte ich. ,Nun, was denn?‘ ,Geh!‘ Er küßte mich und begann, mit seinem leichten und schönen Schritt Sasonow einzuholen. Ich begleitete sie mit dem Blick. In der Sonne blitzten Sasonows Uniformknöpfe. Er trug die Bombe in der rechten Hand, unter dem Oberarm. Man konnte sehen, daß sie schwer zu tragen war.

Ich blieb stehen. Schon das Äußere der Straße ließ mich erraten, daß der Minister gleich vorbeifahren würde. Die Polizeileutnants und Schutzleute boten einen aufgeregten und angespannt wartenden Anblick. Und tatsächlich ertönte gleich hinter mir der scharfe Trab, und der Wagen mit den Rappen sauste vorüber.

Es vergingen einige Sekunden. Sasonow verschwand in der Menge, aber ich wußte, daß er jetzt auf der Hauptstraße, parallel zum Hotel ,Warschau‘, ging. Diese wenigen Sekunden schienen mir unendlich lang. Plötzlich drang in den eintönigen Lärm der Straße ein schwerer und gewichtiger, seltsamer Laut. Als hätte jemand mit einem gußeisernen Hammer auf eine gußeiserne Platte geschlagen. Im gleichen Augenblick klirrten kläglich die zersprungenen Fensterscheiben. Ich sah, wie in schmalem Wirbel eine Säule graugelben, an den Rändern fast schwarzen Rauchs vom Boden aufstieg. Diese Säule erweiterte sich immer mehr und überschwemmte in der Höhe der fünften Etage die ganze Straße. Sie zerstreute sich ebenso schnell wie sie aufgestiegen war.

Im ersten Augenblick mußte ich den Atem anhalten. Aber ich hatte die Explosion erwartet, und daher kam ich schneller zu mir als die anderen. Ich lief quer über die Straße. Als ich bereits lief, hörte ich eine erschreckte Stimme: ,Laufen Sie nicht, es wird noch einmal explodieren...‘“

So schildert Sawinkow in seinen Erinnerungen eines Terroristen das Attentat auf den russischen Innenminister Wjatscheslaw Plehwe am 15.Juli 1904.

Boris Wiktorowitsch Sawinkow (1879-1925) war eine der ungewöhnlichsten Persönlichkeiten der russischen Politik und Literatur am Anfang des 20.Jahrhunderts. Seine Erinnerungen gehören zu den wichtigsten literarischen Dokumenten des Terrorismus.

Sawinkow wurde 1879 in Charkow in der Ukraine geboren. Er wurde früh politisch aktiv, zunächst in marxistisch orientierten Gruppen, er schrieb Artikel für die linke Presse. Seit etwa 1895 verschärften sich im zaristischen Rußland, dem vielleicht despotischsten Staat des damaligen Europas, die sozialen und politischen Konflikte massiv. 1898 entstand die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands“, aus der später die Bolschewiki hervorgingen. Die wichtigste Organisation der nichtmarxistischen Linken war die 1901 gegründete „Partei der Sozialrevolutionäre“.

Sawinkow wurde wegen seiner politischen Aktivität mehrfach verhaftet, schließlich von der Universität, wo er Jura studierte, verwiesen und in eine Provinzstadt verbannt. Er schloß sich den Sozialrevolutionären an, vor allem, weil die Marxisten den individuellen Terror als politische Aktionsform ablehnten. Die Sozialrevolutionäre dagegen glaubten, der Staat könne durch Terror entscheidend destabilisiert werden.

1903 floh Sawinkow aus Rußland. Im Schweizer Exil wurde er bald Mitglied der Parteiführung der Sozialrevolutionäre.

Auch viele von Sawinkows Gegnern waren von seiner Ausstrahlung fasziniert. Er wird beschrieben als blasser, schlanker Mann mit eleganten, zurückhaltenden Umgangsformen, überlegen und kühl, verletzlich und phantasievoll. Diesen widersprüchlichen Zügen entsprach ein beträchtliches schauspielerisches Talent, das ihm ermöglichte, während seiner illegalen Aufenthalte in Rußland die unterschiedlichen Rollen — er bevorzugte die eines englischen Kaufmanns — zu spielen.

Sawinkow war stellvertretender Leiter der „Kampforganisation“ der Sozialrevolutionäre, die zwischen 1903 und 1909 eine Terrorkampagne gegen die zaristische Regierung unternahm. Von ihr handeln die Erinnerungen eines Terroristen, geschrieben 1911 bis 1914 in Frankreich (eine deutsche Neuausgabe, kommentiert von Hans Magnus Enzensberger, erschien 1985).

Den Attentaten der Sozialrevolutionäre fielen Dutzende führender Vertreter des Staates zum Opfer, unter ihnen der Ministerpräsident Stolypin, die Innenminister Sipjagin und Plehwe und der „starke Mann“ des Regimes, der Großfürst Sergej Alexandrowitsch.

Sawinkow beschreibt nicht nur die Planung und Ausführung der Anschläge, an denen er beteiligt war. Von besonderer Intensität sind seine Porträts der Mitglieder der „Kampforganisation“. Unter ihnen — wie in der oppositionellen Bewegung im zaristischen Rußland allgemein — waren viele Frauen und Angehörige der unterdrückten nationalen Minderheiten, vor allem Polen und Juden. Sawinkow erzählt von diesen nach Herkunft und Charakter völlig verschiedenen Menschen einfühlsam und unbefangen, er macht kaum je den Versuch, sie zu heroisieren. Er schildert ihre moralischen Konflikte, die ungeheure Spannung, die Atmosphäre von Angst und Unsicherheit, das Nebeneinander von Unerbittlichkeit und Haß, Mitgefühl und Herzlichkeit. Er verschweigt auch nicht manche zweifelhaften Züge, eine mitunter fast zwanghafte Opferbereitschaft und Todessehnsucht, die Neigung zu romantischen Gesten.

Die Erinnerungen sind voll von dramatischen Begebenheiten. Sie schildern die Beobachtung der Opfer, die Attentate, illegale Grenzübertritte, konspirative Treffen in Badehäusern und auf Maskenbällen — immer wieder eröffnen sie auch Einblicke in die unterschiedlichsten Bereiche der damaligen russischen Gesellschaft, die Zirkel der linken und liberalen Intelligenz, Gerichte und Gefängnisse, die Aktivität der Geheimpolizei, das Leben im westeuropäischen Exil.

Eingefügt in Sawinkows Erzählung sind zahlreiche Briefe und autobiographische Texte seiner Gefährtinnen, Protokolle von Verhören, politische Proklamationen. Sawinkows Stil ist stets präzise, eindringlich. Im Gegensatz zu der subtilen Beobachtung der Gefühle anderer schreibt freilich Sawinkow über sich selbst, seine eigenen Gefühle und Motive meist sehr zurückhaltend.

Die Vorstellung, der Staat könne durch den Terror in die Knie gezwungen werden, erwies sich als Illusion. Es zeigte sich, daß trotz vieler erfolgreicher Anschläge jedem getöteten Repräsentanten des Regimes nur ein anderer folgte.

1909 wurde die „Kampforganisation“ der Sozialrevolutionäre aufgelöst, nachdem sich herausgestellt hatte, daß ihr Leiter, Ewno Asew, ein Polizeiagent war. Der Terror, das Spiel mit der Gefahr, den wechselnden Identitäten, der Gewalt, hatte immer wieder auch Psychopathen und Abenteurer angezogen; Asews Verrat aber wirkte auf die Sozialrevolutionäre, auch auf Sawinkow, wie ein Schock und trug — neben der politischen Erfolglosigkeit — zur Aufgabe ihrer terroristischen Strategie bei.

Albert Camus setzte sich mehrfach mit Sawinkows Geschichte auseinander. Er schrieb über die „Kampforganisation“ in seinem Buch Der Mensch in der Revolte, seine Drama Die Gerechten greift eine Episode aus denErinnerungen eines Terroristen auf, das Attentat auf den Großfürsten Sergej Alexandrowitsch (Sawinkow erscheint in den Gerechten in der Gestalt des Borja Annenkow).

Diese Werke stehen für die Auseinandersetzung von Camus mit der moralischen Problematik der revolutionären Gewalt, des bewaffneten Aufstandes, des Terrors. Freilich ist deutlich spürbar, daß Camus mit dem ideologischen und sozialgeschichtlichen Hintergrund von Sawinkows Bericht nur wenig vertraut war.

Nach der Auflösung der „Kampforganisation“ lebte Sawinkow zunächst in Frankreich. Hier entstand auch ein großer Teil seiner literarischen Werke — außer den Erinnerungen Gedichte, Erzählungen und mehrere Romane, meist mit politischer Thematik. Vor allem die (unter dem Pseudonym W. Ropschin veröffentlichten) Romane Das fahle Pferd und Als wäre es nie gewesen wurden sehr bekannt. Von mehreren dieser Bücher erschienen auch deutsche Übersetzungen, sie sind aber heute in keiner öffentlichen Bibliothek mehr vorhanden.

Im Februar 1917 kehrte Sawinkow, der auf der französischen Seite als Freiwilliger gekämpft hatte, nach Rußland zurück. In der Regierung des gemäßigten Sozialisten Kerenski wurde er stellvertretender Kriegsminister.

Während in der russischen Armee und Bevölkerung der Widerstand gegen den Krieg immer breiter wurde, versuchte Sawinkow, durch drakonische Maßnahmen die Auflösung der Front zu verhindern. Unter dem Vorwurf, er sei in Pläne zur Errichtung einer rechten Militärdiktatur verstrickt gewesen, wurde er schließlich aus der Sozialrevolutionären Partei ausgeschlossen.

Im Oktober 1917 stürzten die Bolschewiki die Kerenski-Regierung. In dem Bürgerkrieg, der folgte, gehörte Sawinkow zur Führung der „Weißen“. Dabei geriet er — ähnlich wie die Sozialrevolutionäre — immer stärker in politische Abhängigkeit von der zaristischen Rechten. Nach dem Sieg der Bolschewiki ging Sawinkow erneut ins Exil und versuchte von dort aus, eine Untergrundbewegung in der Sowjetunion zu organisieren.

1924 wurde er festgenommen, als er illegal in das Land zurückkehrte. Er wurde zum Tode verurteilt, wegen seiner Verdienste im Kampf gegen den Zarismus aber zu zehn Jahren Haft begnadigt. Sogar einige seiner Bücher wurden in der Sowjetunion neu aufgelegt.

Nach dem Prozeß erschien in der sowjetischen Presse ein Artikel Sawinkows, in dem er sich von seinen bisherigen Verbündeten lossagte — eine seltsam, stilistisch brillante Bankrotterklärung, mit dem Schluß, er akzeptiere die Sowjetmacht. Die Authentizität dieses Artikels ist umstritten. 1925 wurde bekanntgegeben, Sawinkow habe sich aus dem fünften Stock des Gefängnisses in einen Lichtschacht gestürzt und sei auf der Stelle tot gewesen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen