Die Überschätzung der Schnelligkeit

■ Der Flaneur unter Berliner Bedingungen: eine Figur mit Willen zur Selbstbehauptung. Von jagenden Fluchtpunkten, mütterlichen Steinen, Astern im Knopfloch und konfiszierten Spazierstöckchen. Ein Vorabdruck

Die Wandlungsfähigkeit des Flaneurs macht es schwer, ihn als Typus eindeutig zu fixieren. Er tritt als Physiognomiker und als Chronist in Erscheinung, als Spaziergänger und als Detektiv, als Erotiker und als Philosoph. Der selbstvergessene Straßenrausch, das historische Eingedenken und die soziologische Analyse zählen zu seinen vielfältigen Betätigungen in der Stadt. Doch was immer er unternimmt, ob er bloß müßig daherschlendert, ob er sich am Straßenleben berauscht oder scharf beobachtet, fast immer tut er's in einer geradezu provozierenden Langsamkeit. Anders als die terminbeflissenen Passanten verweigert sich der Flaneur der Anpassung ans »Tempo«.

Das beschwört einen Dauerkonflikt mit der urbanen Umwelt herauf, die der Nährboden der Flanerie ist. »Hierzulande muß man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen«, klagt Franz Hessel. Nicht erst für ihn, der im Berlin der zwanziger Jahre der Flanerie nachgeht, wird sie zur »schwierigen Kunst«. Eine Kunstübung war sie immer; schon im 19. Jahrhundert war es schwierig, wenn nicht lebensgefährlich, sich in den Hauptverkehrsstraßen von Paris oder London gegen den Strom der Passanten und Fuhrwerke zu stellen. Der Pariser Flaneur fand ein ideales Biotop in den Passagen; wo sie abstarben oder — wie in Berlin — wenig Raum boten, mußte er in andere Räume ausweichen, ins Exil der Wahrenhäuser, Vorstadtstraßen, Hinterhöfe, Gassen.

Diese Ausweichbewegungen und die Metamorphosen des Flaneurs gaben wiederholt Anlaß zu Todesanzeigen. In der Literatur über den Flaneur ist er immer der Abgeschiedene, günstigstenfalls der Dahinscheidende oder kurzfristig Wiederauferstandene. Verantwortlich gemacht wird für sein Verschwinden immer eine Veränderung des großstädtischen Raums: der Zuwachs an Verkehr, seine Motorisierung und Beschleunigung, die Einfassung der Straßen durch geschichtslose Fassaden, die Unwirtlichkeit der spätmodernen oder die »Unwirklichkeit« der postmodernen Städte. Diese Ableitungen klingen allesamt plausibel, heißt es doch schon in einem Text Siegfried Kracauers:

»Das Tempo ist eine Folge der Bauart der Städte. Kann einer in Paris ein Berliner Tempo einschlagen, selbst wenn er es überaus eilig hat? Er kann es nicht. Die Straßen in den inneren Stadtteilen sind eng, und wer sie passieren will, muß sich nach unseren Begriffen in Geduld üben. Und sind auch die großen Boulevards breit angelegt, so verbinden sie doch dichtbevölkerte Bezirke miteinander, die einen Dauermenschenstrom über sie schicken. Der Zwang zum Flanieren ist allerdings süß, und selten ist aus der Not begrenzten Raums eine so herrliche Tugend gemacht worden. Leider läßt sie sich nur schwer nach Berlin übertragen. Unsere Architektur ist entsetzlich dynamisch: entweder jagt sie unvermittelt senkrecht nach oben oder sucht auf horizontale Weise das Weite. Und die Straßen gar — wenn ich an die Kantstraße denke, so befällt mich sofort das unwiderstehliche Verlangen, ohne Aufenthalt ihrem Fluchtpunkt zuzujagen, der irgendwo im Unendlichen liegen muß, nahe beim Rundfunkhaus.«

Und dennoch: Aus diesem Befund ist die generelle Unmöglichkeit des Flanierens nicht abzuleiten. Kracauer gibt für den Selbstbehauptungswillen des Flaneurs unter Berliner Bedingungen das beste Beispiel ab. Alle Todesanzeigen übersehen die Inhomogenität der großen Städte. Auch wenn die Flanerie an bestimmten Orten erschwert oder unmöglich gemacht wird, folgt daraus noch lange nicht, daß sie völlig verschwindet. Notfalls nimmt der Flaneur Taschenuhr und Stadtplan, die Requisiten des eiligen, zielstrebigen Passanten zur Hand, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen. »Die Technik des erfahrenen Spaziergängers«, heißt es in einem Text Walther Kiaulehns über Spaziergänge durch Berlin (1932), »besteht aus einem Aufeinanderpassen von Zeit und Gelegenheit. Die Zeiten für Berliner Spaziergänge sind der frühe Morgen und der späte Nachmittag. Die Gelegenheiten sind die Wege längs der Kanäle, die Parks der Berliner Altstadt und die Vororte [...] Die Grünflecken auf der Stadtkarte kreist man mit Zirkelschlägen ein, numeriert sie und grast diese Nummern ab [...] Den einzelnen Zirkelschlägen auf der Stadtkarte gibt man Zensuren. Die guten Nummern werden öfters besucht. Damit sich das Wiederkommen lohnt, knüpft der erfahrene Spaziergänger überall seine Geschäftsbeziehungen an.«

Das Flanieren ist aber nicht nur in den ruhigen Zonen der Stadt, es ist überall möglich, unter einer Voraussetzung: daß es geduldet wird. Die Hektik umgebender Menschen stört den Flaneur nicht, solange sie ihm ihr »Tempo« nicht aufzwingen. Er empfindet es, nach Hessels Schilderung, sogar als besonderes Vergnügen, von der Eile der anderen wie von Brandungswellen überspült zu werden. Nicht das äußere, das verinnerlichte »Tempo« ist sein größter Gegner; nicht der Verkehr, sondern die »Überschätzung der Schnelligkeit«. Hessel hat keine Probleme mit dem Berliner Verkehr oder den baulichen Gegebenheiten, sondern mit der Intoleranz seiner Mitbürger. Selbst wenn der Schlenderer seinen eiligen Mitmenschen noch so geschickt ausbiegt, fällt er unangenehm auf. »Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäftigen zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.«

Ist der Flaneur ein »Schlüsselphänomen der Moderne« (Dietmar Voss), so insofern, als er gegen die gesellschaftliche Modernisierung opponiert. Der zweckrational bestimmten Lebensführung setzt Hessel ein zweckfreies Tun entgegen: »Das Spazierengehen ist weder nützlich noch hygienisch. Wenns richtig gemacht wird, wirds nur um seiner selbst willen gemacht, es ist ein Übermut wie — nach Goethe — das Dichten. Es ist mehr als jedes andre Gehen zugleich ein Sichgehenlassen. Man fällt von einem Fuß auf den anderen und balanciert diesen angenehmen Vorgang. Kindertaumel ist in unserm Gehen und das selige Schweben, das wir Gleichgewicht nennen [...] Es ist das unvergleichlich Reizvolle am Spazierengehen, daß es uns ablöst von unserm mehr oder weniger leidigen Privatleben. Wir verkehren, kommunizieren mit lauter fremden Zuständen und Schicksalen. Das merkt der echte Spaziergänger an dem Erschrecken, das er verspürt, wenn in der Traumstadt seines Flanierens ihm plötzlich ein Bekannter begegnet und er dann mit jähem Ruck wieder identisch und nur Herr Soundso auf dem Heimweg vom Büro ist.«

Der Flaneur fällt aus seiner sozialen Rolle — wenn er denn eine hat — heraus; sein Blick und sein Empfinden werden kindlich. Schaufenster verwandeln sich in Landschaften, Firmennamen in mythische Gestalten und Märchenfiguren, Baugruben in Schlachtfelder. Walther Kiaulehn vergleicht den Berliner Bummler mit einem edlen Wilden, der sich am Sonntagnachmittag staunend in einer verlassenen Goldgräberstadt umschaut: »So leise und unvermittelt sind wir da, wie der edle Lederstrumpf aus dem Schweigen der Wälder auf die Savanne, auf die Prärie hinaustritt.«

Hessel und Kiaulehn empfehlen, sich von Licht und Dämmerung »täuschen und verführen« zu lassen, nicht zu genau hinzusehen, damit sich ein idyllisches Vorstellungsbild einstellt. In den Nebelmonaten, schreibt Kiaulehn, verwandle sich die Stadt »in ein geheimnisvolles Märchenschloß, worin die Erwachsenen umgehen wie die Kinder im Knusperhäuschen, ein wenig furchtsam, doch sehr beglückt.« Der Flaneur sucht ein kommunikatives, affektiv bestimmtes, intimes Verhältnis zum urbanen Raum: »Wunderbar ist die sanfte Ermüdung, die nur er kennt, er, der immer unterwegs bleibt und nie eilt. Und eins seiner schönsten Erlebnisse ist der neue Schwung, den er bei langem Gehen nach der ersten Müdigkeit bekommt. Dann trägt das Pflaster ihn mütterlich, es wiegt ihn wie ein wanderndes Blatt.« (Franz Hessel)

Trotz seiner Verweigerungshaltung ist der Flaneur eine harmlose Erscheinung. Wenn ihm der Ruf des Verdächtigen, potentiell Subversiven anhaftet, so beruht das vor allem auf dem Unverständnis seiner Mitwelt. Eine Anekdote aus den zwanziger Jahren berichtet davon, wie die ignoranten Ordnungshüter der Gesellschaft sich bemühten, das im Flaneur vermutete subversive Potential unter Kontrolle zu bringen:

»In der Mitte der zwanziger Jahre mußte der Berliner Schauspieler Ludwig Hardt, ein berühmter Rezitator, als Angeklagter in Moabit erscheinen, weil er abends um sieben sein Spazierstöckchen auf den Kurfürstendamm geworfen hatte. Es war weiter nichts geschehen, der ‘Schupo‚ jedoch hatte Anzeige wegen eines alten und doch ganz neuartigen Delikts erstattet: ‘Transportgefährdung‚.

Das Stöckchen war konfisziert und lag auf dem Richtertisch. ‘Warum haben Sie es auf die Fahrbahn geworfen?‚ ‘Nur so, Herr Vorsitzender.‚ ‘Was heißt, nur so?‚ Verteidiger: ‘Herr Hardt hat es offenbar aus Lebenslust getan!‚ Nochmals befragt, erinnerte sich der Schauspieler, er hätte sich beim Spazierengehen seiner Kindheit erinnert. Damals schon habe er kleine Stöckchen vor die Fuhrwerke geworfen und sich daran gefreut, wenn sie überrollt wurden. Richter: ‘Ja, das ist aber doch Transportgefährdung!‚ Ludwig Hardt begann sich zu erregen. Er wisse gar nicht, was eine Transportgefährdung sei. Die Autos auf dem Kurfürstendamm hätten abends um sieben gar nichts zu transportieren als sich selbst. Die Automobilisten seien zu ihrem Vergnügen auf der Straße gewesen wie er auch.«

Ludwig Hardt wurde verurteilt. Er sei »der letzte Flaneur von Berlin gewesen, ein Mann mit einem dünnen Wirbelstöckchen aus Bambus, kleine Aster im Knopfloch«, schreibt Kiaulehn, »ein Märtyrer der alten, fest eingewurzelten Berliner Ansicht, daß die Straße dem Vergnügen der Anwohner diene und daß der Verkehr ein großes kindliches Vergnügen und eine Quelle tiefer Lust sei.«

Bemerkenswert an der Anekdote ist zweierlei: Erstens, daß Schupo und Richter die Harmlosigkeit des Flaneurs nicht zu begreifen vermochten; zweitens, daß der Flaneur die Automobilisten, in deren Namen sie ihr Urteil sprachen, als seinesgleichen erkannte. Seine Argumentation war stichhaltig. Der starke Feierabendverkehr auf dem Kurfürstendamm diente einzig und allein dem Vergnügen, in der glanzvollen Inszenierung eines weltstädtischen Nachtlebens mitzuwirken. Aus vielen literarischen Texten aus den zwanziger Jahren geht hervor, daß das Autofahren ähnlich betrieben und erlebt wurde wie die Flanerie. Die Autotour war beliebt als eine Möglichkeit, aus dem Alltag auszusteigen und sich einem Straßenrausch hinzugeben, in dem sich das alltägliche Bild der Stadt verflüchtigte.

Walther Kiaulehn, der die Anekdote überliefert hat, deutet noch andere Erscheinungsformen des Berliner »Tempos« als beschleunigtes Flanieren. Er sieht hinter der Anteilnahme, mit der die Berliner ihren Verkehr betreiben, ein verborgenes »Lustmotiv«.

»Wer auf die Massenverkehrsmittel angewiesen war, und das waren 95% aller Berliner, der konnte sich frühmorgens an einer Art von Frühsport beteiligen, das war der Verkehr. Er wurde unter Benutzung aller Verkehrsmittel gespielt, das große Einmannspiel gegen Zeit und Entfernung, gespielt von einigen hunderttausend Teilnehmern, ein Massenrausch [...] Störend waren nur die Niveauunterschiede beim Übergang vom einen zum anderen Verkehrsmittel. Man mußte viele Stufen auf- und absteigen. Aber weil der Berliner durch die vier- und fünfgeschossige Bauweise seiner Häuser an diesen Briefträgersport gewöhnt ist, ging es gerade über die Treppen immer in großem Tempo, und der Fremde, der unversehens in diesen Sog des Berliner Frühsports geriet, blieb bald atemlos zurück [...] So ein Mann spürte natürlich niemals etwas von dem erregenden Fluidum der gemeinsamen Anspannung; eines der großen Lustgefühle des Mannes der Masse blieb ihm fremd.«

Das vielbeschriebene Leiden am aufgezwungenen »Tempo« läßt sich überwinden, indem es noch über das vernünftige und notwendige Maß hinaus gesteigert wird. Der Flaneur, unfähig, gegen das »Tempo« seiner Mitmenschen länger anzuschwimmen, eilt ihm davon.

Michael Bienerts Buch Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik erscheint dieser Tage im Metzler Verlag, Stuttgart (280 S., 36 Abb., geb. 78 DM). Es enthält Fallstudien zu Technik, Tempo, Weltstadt, soziales Elend, Krisenmentalität. Rekonstruiert werden historische Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster, um dadurch »auch aktuelle Stadtwahrnehmungen und Stadtinszenierungen besser zu verstehen.«