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Die UNO schlägt AlarmKrieg und Armut, ein Teufelskreis

Vertreibung und Hunger nehmen zu, die Zahl der Hungernden hat die Milliardenmarke überschritten. Experten sehen in der Hungerkrise ein "ernstes Risiko für den Weltfrieden".

Über eine Milliarde Menschen haben regelmäßig nicht genug zu essen. Bild: dpa

Die über 12.000 Menschen sind seit Januar auf der Flucht, ein Sechstel der Kleinkinder unter ihnen sind schwer unterernährt. Vor fünf Monaten flohen die Bauern aus den ostkongolesischen Dörfern Bamungubano und Balinga tief im Regenwald in die Stadt Shabunda. In der von Milizen umlagerten Goldhandelsstadt leben sie bei Gastfamilien, die selbst nichts haben. "Manchmal teilen wir uns ein bisschen Maniokmehl mit Blättern", sagt ein Familienvater. Am Mittwoch hat das UN-Welternährungsprogramm WFP erstmals die Flüchtlinge registriert und bei den unter fünf Jahre alten Kindern die hohe Unterernährungsrate von 15,4 Prozent festgestellt. Vielleicht kommt jetzt Hilfe, falls die Milizen sie durchlassen.

Die Zahlen von Hungernden und Fliehenden auf der Welt steigen, und die Ursachen dafür sind ähnlich: Krieg und Unsicherheit, die zusammen mit der Weltwirtschaftskrise Einkommen reduzieren und Armut vergrößern, was wiederum Konflikte fördert. Parallel zum heutigen Weltflüchtlingstag erklärt die UN-Agrarorganisation FAO, die Zahl der Hungernden auf der Welt habe erstmals die Marke von einer Milliarde überschritten: 1,020 Milliarden Menschen haben regelmäßig nicht genug zu essen, gegenüber 915 Millionen vor einem Jahr. Davor hatte es zwölf Jahre gedauert, bis die Zahl um 100 Millionen gewachsen war.

"Die stille Hungerkrise, die ein Sechstel der Menschheit betrifft, stellt ein ernstes Risiko für Weltfrieden und Sicherheit dar", sagte FAO-Chef Jacques Diouf gestern in Rom. WFP-Direktorin Josette Sheeran erklärte: "Der rapide Vormarsch schweren Hungers hat eine gigantische humanitäre Krise hervorgerufen. Die Welt muss sich zusammentun, um den dringenden Bedarf zu stillen, während langfristige Lösungen vorbereitet werden."

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR meldet seinerseits eine starke Zunahme von Flucht und Vertreibung auf der Welt. Ende 2008 habe es 42 Millionen Flüchtlinge, Binnenvertriebene und Asylsuchende gegeben, gegenüber 42,7 Millionen ein Jahr zuvor, aber 2009 seien Millionen Flüchtlinge in den Kriegsgebieten von Sri Lanka, Pakistan und Kongo dazugekommen. Die Zahl der Binnenvertriebenen habe insgesamt stark zugenommen. Beunruhigend auch, so das UNHCR: "Gegenwärtige Rückkehrbewegungen gehören zu den geringsten seit Jahrzehnten."

Als Hauptgrund für zunehmenden Hunger nennt die FAO die massiven Preissteigerungen für Lebensmittel im Jahr 2007 und in der ersten Hälfte des Jahres 2008, was in vielen Städten der Welt Hungerunruhen hervorrief, gefolgt von einem Preisverfall infolge der globalen Finanzkrise ab Herbst 2008, die viele Bauern in den Ruin getrieben hat, ohne die Lage der Verbraucher insgesamt zu verbessern. "Während Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten in den letzten Monaten gesunken sind, gehen die Verkaufspreise in Entwicklungsländern langsamer zurück", warnt jetzt die FAO. "Ende 2008 blieben sie durchschnittlich real 24 Prozent über dem Niveau von 2006. Für Arme, die bis zu 60 Prozent ihrer Einkommen für Grundnahrungsmittel ausgeben, bedeutet dies eine erhebliche Schrumpfung ihrer Kaufkraft."

Ökologische, ökonomische und militärische Unsicherheit bedingen sich oft gegenseitig. Laut einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung des Pole Institute in der Demokratischen Republik Kongo sind die Preise für die meisten Grundnahrungsmittel im umkämpften Ostkongo heute höher als zu den schlimmsten Zeiten des Kongokrieges, als das Land insgesamt in Warlordgebiete zerfallen war. Ein Packen Maniokblätter, für die Ärmsten das einzige erschwingliche Gemüse, kostete 2001 0,43 US-Dollar, Anfang 2009 aber 1,74; der Preis für 100 Kilogramm Bohnen sank zwischen 2001 und 2005 von 36 auf 20 Dollar, liegt aber heute bei 60 Dollar. Holzkohle, die Energiequelle der Bevölkerungsmehrheit, ist heute mehr als viermal so teuer wie vor acht Jahren. Steuern auf Holzkohle sind nach UN-Recherchen die wichtigste Einnahmequelle der ruandischen Hutu-Milizen im Ostkongo. Sie sowie Kongos Regierungsarmee sind für Vergewaltigungen von Bäuerinnen und den Diebstahl von Ernten verantwortlich, weswegen hunderttausende von Menschen geflohen sind und fruchtbare Landstriche brachliegen.

Nicht nur im Kongo, auch in Sri Lanka und Pakistan ist dieses Jahr die destabilisierende Rolle von Regierungstruppen ein Hauptgrund für Flucht, Vertreibung und neue Abhängigkeit von Hilfe. In diesen drei Ländern und anderswo verhindert die politisch oktroyierte Nähe von Hilfswerken, UN-Organisationen oder Blauhelmtruppen zum Militär effektive Hilfe für die Bevölkerung. Die Diskussion über die "Schutzverantwortung" (responsibility to protect) der internationalen Gemeinschaft in Krisengebieten, angestoßen durch die Massenvertreibungen im sudanesischen Darfur, hat offensichtlich keine Folgen gehabt.

In Sri Lanka waren dieses Jahr zehntausende Tamilenzivilisten wochenlang Artilleriebeschuss der Armee ausgesetzt, die per Kollektivbestrafung der Bevölkerung im Gebiet der Tamilenrebellenarmee LTTE (Befreiungstiger von Tamil-Eelam) schließlich den Sieg errang. Diese Zivilisten leben jetzt in von der Armee bewachten Lagern. In Pakistan sind rund drei Millionen Menschen vor der Großoffensive der Armee gegen die Taliban auf der Flucht. Ihre Versorgung kann nur durch lokale Hilfswerke gewährleistet werden, aber diese werden von internationalen Partnern vernachlässigt, die lieber mit dem Militär arbeiten, kritisierten Hilfswerke am Dienstag bei einer Anhörung des US-Kongresses.

Inmitten all dieser Missstände ist der heutige Weltflüchtlingstag Anlass für eine Reihe von Galaveranstaltungen. UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres frühstückt heute in Chicago in einem äthiopischen Restaurant. Die Filmstars Angelina Jolie und Brad Pitt haben eine Million Dollar für Flüchtlinge in Pakistan gesammelt. Währenddessen regen sich Tierschützer in den USA darüber auf, dass Präsident Barack Obama während eines Fernsehinterviews eine Fliege zerquetschte.

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5 Kommentare

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  • NJ
    navajo joe

    Ich stimme buckelwal ausdrücklich zu.

     

    z. B. die extremen Ungleichheiten sieht man, wenn man die mit "Police" gekennzeichneten Tiere in Teheran vergleicht mit den Angehörigen derselben Spezies, auf die sie einprügeln - oder Ähnliches in Afrika, wenn man die Täter mit den Opfern vergleicht - wobei Opfer in anderen Situationen wiederum zu Tätern werden können und umgekehrt ...

     

    Die Menschen sind wirklich merkwürdige Tiere. Traurig, aber wahr, dass sie einerseits extrem empathiefähig sein können (wie kaum andere Tiere), zugleich aber zu Handlungen fähig sind, die an Grausamkeit die aller anderen übertreffen (absichtliche Folter ... oder auch 'nur' Schlangen im Zoo mit lebenden Kaninchen zu füttern, damit andere Menschen doch diese Schlangen bewundern können, um damit dann Geld zu verdienen ...). Was Lifton & Marcusen "dissociation" nennen (in: The genozidal mentality) spielt hier sicher eine Rolle. Damit verbunden auch "Training" zu eben solcher Nicht-Empathie, sei es die recht alltägliche Nicht-Empathie gegenüber nicht-menschlichen Tieren (vgl. Massentierhaltung etc.) oder gegenüber anderen Menschen.

     

    Die Biologie sollte endlich das Adjektiv "sapiens" streichen und durch so etwas wie "extremis" ersetzen.

  • B
    buckelwal

    @ Puck: Die Aussage, Menschen seien Tiere, stört dich vielleicht v.a. deshalb so, weil du keine angemessene Achtung vor Tieren hast (wobei Tiere natürlich nicht alle gleich sind. Das habe ich nie behauptet).

  • G
    Gockeline

    Armut wird zu einseitig dargestellt.

    Armut hat viele Ursachen und Gesichter.

    Bei uns die viel zu niedrigen Löhne

    und ein paar stecken sich so unverschämt

    viel zu und denken nicht was Menschen der unteren Klasse.tun.

    Armut in Afrika hat ihren Ursprung in der Diktatur

    und Korruption.

    Viel Leid in der Welt entsteht durch falsche Politische Führung.

    An die geht niemand ran und redet mit ihnen.

  • P
    Puck

    @Buckelwal

     

    Ein sehr guter Artikel, in der Tat.

    Und den letzten Satz finde ich ausgesprochen passend. Ich kann mich daran erinnern, daß in den Nachrichten ein erschütternder Bericht darüber kam, daß im Kongo 400 Nilpferde getötet und auch noch aufgegessen wurden - ohne mit einem Wort zu erwähnen, daß dort seit Jahren ein Krieg herrscht der zu diesem Zeitpunkt mal eben 4 Mio Menschen das Leben gekostet hat und daß beides womöglich ursächlich miteinander zusammen hängen könnte. Zum Beispiel könnten sie die Nilpferde aufgegessen haben, um nicht zu verhungern - was jedem Löwen selbstverständlich verziehen würde.

    Das zeigt die Prioritäten in diesem Land doch wohl klar und deutlich.

    Die Taz ist so ziemlich die einzige Zeitung in Deutschland, die regelmäßig über Afrika berichtet. In allen anderen Medien könnte man den Eindruck gewinnen, der Kontinent existiert überhaupt nicht, es sei denn als Reservoire für bedrohte Tiere.

    Daß sich einige Promis in zweifelhafter Weise für Entwicklungspolitik engagieren stößt mir auch sauer auf.

    Noch sauerer stößt mir allerdings auf, daß sich erheblich mehr Promis profilieren, indem sie sich in jeder Talkshow wortreich zum "Tierelend" äußern und noch nicht einmal davor zurückschrecken, die in den meisten Fällen nicht sehr schöne Tierhaltung z. B. bei SChweinen mit KZs zu vergleichen.

    Das ist so schräg gedacht wie dumm formuliert.

    Erstens verbieten sich solche Vergleiche aus Prinzip. Menschen mit Tieren, z. B. SChweinen, gleich zu setzen, sollten wir Nazis überlassen, und wenn wir nach dem Kampf für die bedrohte Tierwelt noch Zeit dafür finden, eine klare Meinung dazu äußern.

    Und zweitens sind diese Aktivisten sich offenbar nicht darüber im Klaren, daß sie in einem Land, in dem mal eben 38 Mio. Eur gespendet werden, um das modernste Tierheim Europas zu bauen (Berlin), mit Tierschutz ein paar billige Punkte machen können - und vor allem ist ihnen nicht bekannt, daß nicht wenige Nazis sich besonders als Tierschützer hervorgetan haben.

    Wer schlecht zu Tieren ist, ist womöglich auch schlecht zu Menschen. Aber wer gut zu Tieren ist, ist deshalb noch lange kein guter Mensch.

  • B
    buckelwal

    Ein guter Artikel, obwohl der letzte Satz mit der Fliege ungefähr so überflüssig ist wie die Debatte darum. Insbesondere kommt es so rüber, als hätten vielleicht "Tierschützer" (als wäre das eine homogene Gruppe) keine anderen Sorgen und würden sich um nichts anderes kümmern, als um Fliegen. Und die gewissensberuhigende und publicitywirksame Wohltätigkeit von irgendwelchen Stars, die von den Zig Millionen, die sie akkumulieren, ein bisschen was "spenden", müsste gerade in der taz auch nicht erwähnt werden. Das machen doch die anderen Medien sowieso zuhauf.

     

    Zum Absatz "In Sri Lanka waren dieses Jahr zehntausende Tamilenzivilisten wochenlang Artilleriebeschuss der Armee ausgesetzt, die per Kollektivbestrafung der Bevölkerung im Gebiet der Tamilenrebellenarmee LTTE (Befreiungstiger von Tamil-Eelam) schließlich den Sieg errang. Diese Zivilisten leben jetzt in von der Armee bewachten Lagern." wäre hinzuzufügen: ... Soweit sie überhaupt noch leben.

     

    p.s. Menschen sind Tiere (wenn auch eine besonders destruktive Spezies) und da mir auch leidende Menschen leid tun, bin ich auch für mehr Menschenschutz, z. B. dafür, dass sie vor Krieg und Hunger (der bekanntlich heute überwiegend menschengemacht ist) besser geschützt werden.