■ Die Türkei müht sich, dem Öcalan-Prozeß einen korrekten Anstrich zu geben. Wichtiger wäre der Blick auf die Kurden: Eine kollektive Demütigung?
PKK-nahe Medien nennen das Öcalan-Verfahren den „Jahrhundert-Prozeß“. Mag sein, daß dieses Etikett jene Selbstüberschätzung zeigt, die die PKK seit langem pflegt. Dennoch: Der Prozeß wird eine der entscheidenden Zäsuren für die in der Türkei lebenden Kurden in diesem Jahrhundert.
Im Bewußtsein sehr vieler Kurden in der Türkei gehört der Kampf der PKK mittlerweile in eine Reihe mit den großen Kurdenaufständen kurz nach der Gründung der Republik in den 20ern und in Dersim in den 30ern. Für diese Leute ist Öcalan der legitime Führer des dritten großen kurdischen Aufstandes.
Vor diesem historischen Hintergrund hat der Prozeß für diese Kurden eine enorme Bedeutung. Für sie ist Öcalan längst zu einem Symbol geworden, einem Symbol, an dem sich zeigen wird, wie sich der türkische Staat in der Zukunft ihnen gegenüber verhalten wird.
Solange Öcalan frei war, gab es viele kurdische Intellektuelle, Geschäftsleute und sonstige unabhängige Geister, die von Apo, der PKK und ihren Methoden nichts wissen wollten. Das traf vor allem auf Kurden zu, die im Westen der Türkei leben und nur noch sporadischen Kontakt zu den Orten ihrer Herkunft hatten. Für die Leute in den kurdischen Gebieten, im Südosten der Türkei, war die Situation seit Jahren anders – sowohl die PKK wie auch die türkische Armee zwangen einzelne Dörfer, Stellung zu beziehen. Entweder als Dorfschützer im Sold der Armee gegen die PKK oder als Symphatisanten der Guerilla, die die Militanten der PKK heimlich versorgten. Neutralität war praktisch unmöglich, man mußte mitmachen oder weggehen.
Mit Beginn der Kampagne der türkischen Regierung und des Militärs im September 1998, Öcalan aus Syrien zu vertreiben, um so die PKK militärisch endgültig zu erledigen, hat sich die Lage auch für die unabhängigen Kurden verändert. Viele fühlten sich von dem überbordenden türkischen Nationalismus be- und getroffen. Als Öcalan in Rom auftauchte und die italienische Regierung zögerte, erreichte die nationale Aufwallung einen ersten Höhepunkt: „Nato-Verbündete hofieren Babymörder“ war die Parole, italienische Produkte wurden auf Istanbuls Plätzen verbrannt. Dieses medial angeheizte Klima mußte auch die PKK-kritischen Kurden befremden. Als kollektive Erniedrigung empfanden dann nahezu alle Kurden die Bilder vom gefangenen Apo – mit verbundenen Augen vor der türkischen Fahne.
Türkische Politiker vergleichen den Öcalan-Prozeß mit den Terroristenprozessen in Deutschland, Italien und Frankreich. Wenn jetzt Kritik an dem Verfahren gegen Öcalan geübt wird, wenn europäische Institutionen Einschränkungen von Verteidigerrechten und die Isolation des Häftlings beklagen, verweisen Justiz und Politiker auf die europäischen Vorbilder. Wurden nicht auch in den RAF-Prozessen die Rechte der Verteidigung eingeschränkt, war Stammheim nicht auch eine Hochsicherheitsveranstaltung?
Rein formal ist daran sogar etwas Richtiges. Verglichen damit, wie der Rechtsstaat Deutschland auf die RAF reagierte, ist der schmalbrüstige Rechtsstaat Türkei gegenüber seinem prominentesten Gefangenen vergleichsweise fair.
In diesem formalen Vergleich verbirgt sich jedoch zugleich der entscheidende Denkfehler. Der türkische Staat, die Politik und Justiz tun so, als glaubten sie ihrer eigenen Propaganda, Öcalan sei nichts als ein gemeiner Terrorist. Zweifellos hat die PKK terroristische Methoden angewandt. Aber ebenso zweifellos ist sie keine isolierte Terrorgruppe.
Die bundesdeutsche Politik konnte es sich letztlich leisten, die RAF-Leute als ordinäre Kriminelle zu denunzieren, weil nur eine winzige Minderheit der Gesellschaft die Ziele der RAF teilte. Das ist im Falle der PKK ganz anders. Auch wenn sie die Methoden der PKK kritisieren – ein großer Teil der Kurden unterstützt zumindest teilweise die Ziele Öcalans. Zusammen mit der Auflösung der traditionellen kurdischen Lebensformen, der Individualisierung und Verstädterung hat die PKK es geschafft, ein modernes kurdisches Nationalbewußtsein zu schaffen. Das ist das Problem der türkischen Politik – und nicht die Kritik des europäischen Menschenrechtsgerichtshofes.
Kurdische Intellektuelle reden oft davon, daß der Öcalan-Prozeß „behutsam“ geführt werden soll. Damit meinen sie mehr als formale juristische Fairneß. Die Kurden erwarten, daß, selbst wenn Öcalan verurteilt wird, die türkische Seite ihren Anliegen mit Respekt begegnet. Die Anerkennung ihrer Sprache, die Anerkennung ihrer Kultur, die Akzeptanz, daß die türkische Republik mehrere Völker vereint – darum geht es.
Die Chance des bevorstehenden Prozesses wäre es, zu sagen: Der Weg der PKK war falsch, Öcalan wird verurteilt, aber wir nehmen euer Anliegen ernst.
Dazu braucht es aber mehr als einen „fairen Prozeß“, dazu wäre eine politische Initiative notwendig. Die neue türkische Regierung aus Ecevits Demokratischer Linkspartei und den Ultranationalisten der MHP will die Staatssicherheitsgerichte reformieren und den Militärrichter daraus entfernen. Damit reagieren sie auf die Kritik aus Europa, die Staatssicherheitsgerichte entsprächen nicht den Standards einer unabhängigen Justiz. Ecevit will so beweisen, daß die Türkei „ihre Terroristen“ genauso rechtsstaatlich verurteilen kann wie Deutschland und Italien auch.
Damit wird Ecevit jedoch nichts gewinnen. Denn die türkischen Politiker müßten nach Diyarbakir statt nach Straßburg schauen. Nicht die europäischen Richter müssen sie davon überzeugen, daß sie sie ernst nehmen, sondern ihre kurdischen Bürger.
Europa kann derzeit nur noch wenig tun. Die Chance, auf die türkische Kurdenpolitik Einfluß zu nehmen, wurde verspielt, als Deutschland und Italien sich weigerten, selbst einen Prozeß gegen Öcalan durchzuführen. Jetzt auf der Ebene des juristischen Klein-klein nachzukarten und die großen Menschenrechtler herauszukehren wird für die Lösung des Konflikts wenig bringen. Im Gegenteil, je mehr die türkische Regierung und das Militär den Eindruck haben, Europa sorge sich vor allem um das Wohlergehen „des Terroristen“ Öcalan, um so weniger werden europäische Politiker in Ankara ein offenes Ohr finden, wenn sie zu Recht eine politische Reaktion auf die „kurdische Frage“ einfordern.
Nach wie vor leidet die türkische Politik an dem Trauma, Europa wolle letztlich die Türkei schwächen und spalten, so wie Europa zuvor das Osmanische Reich geschwächt und aufgeteilt hat. Erst wenn man die entscheidenden politischen Kräfte der Türkei vom Gegenteil überzeugt, werden sie zu substantiellen Reformen in der Kurdenfrage bereit sein. Jürgen Gottschlich
Wenn Europa nun nach Menschenrechten ruft, nutzt das herzlich wenig
Dieser Prozeß könnte eine politische Chance sein – wenn Ankara will
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