: Die Traktoristin
Eine Bremer Künstlerin sucht fahrend nach der Ästhetik der Langsamkeit. Sechs Wochen für 1.500 Kilometer
Im ganzen Buch ist kein Mensch auf den Fotos zu sehen. Weder die Traktoristin selbst, noch irgendjemand, der sich ihrem Ungetüm aus Trecker und Bauwagen nähert, es inspiziert – oder wenigstens aus der Ferne verwundert anschaut. Das immer wiederkehrende Motiv ist das Ungetüm selbst– vor wechselnder Landschaft, leicht grünstichig, wie das ganze Buch. Grün ist die Hoffnung, in diesem Fall vielleicht die Liebe. Doch dazu später.
Der Traktor ist immer der Traktor. Das scheinen die bewusst kunstlosen Fotos zu sagen, ob er nun in Kirchseelte oder im belgischen Floriffoux parkt. Stumm, tumb und glotzäugig mit seinen zwei runden Lampen neben der hohen Schnauze. Dennoch ist er mehr als ein altersschwaches Vehikel – nämlich 1.500 Kilometer unterwegs von Bremen nach Académia Galan in Südwestfrankreich, einer Außenstelle der Bremer Hochschule für Künste, die Kunstprofessor Rolf Thiele ins Leben gerufen hat. Die Traktoristin: Christiane Fichtner, 29, gelernte Hutmacherin, Künstlerin.
Würde die Tortur auf dem rußenden, laut tuckernden, widerspenstigen Gefährt – Marke Hanomag, Baujahr 1962 – bei 19 Kilometer pro Stunde irgendwann in Kunst umschlagen? Würde der Alltagshandlung Traktorfahren eine ungeahnte, nicht benennbare Dimension hinzugefügt?
Christiane Fichtner sucht in ihrer künstlerischen Arbeit nach Auflösungszuständen: „Ich setze mich häufig mit Materialien auseinander, die ich vorher gar nicht kannte, und dann komme ich an Grenzen, die ich überwinden will.“
Sechs Wochen lang dauert die Fahrt im Trecker samt umgebautem Bauwagen, ihrer Unterkunft. Das war im Sommer 2003, der canicule, wie es in Frankreich heißt, den Hundstagen. Als die Luft heiß wie ein Wüstenwind war, wenn sie sich überhaupt bewegte. Unter dieser Sonne rollte die Traktoristin gen Süden, sehr langsam.
„Notizen einer langsamen Bewegung“ heißt das Buch, das Christiane Fichtner zusammen mit der Grafikerin Bianca Wessalowski zu ihrer Reise gestaltet hat. Ein Fotobuch und eine Art Tagebuch, in dem Kilometerangaben die Seitenzahlen ersetzen.
Gedankensplitter und kleine Essays finden sich da, grüblerisch sind, oft auch versponnen: „Auf ein etwas gelbliches Grün reagiere ich ganz besonders heftig: mein Atem geht dann plötzlich schneller, es tritt Schweiß auf meine Handflächen und durch mein Herz, das wie eine große rote Koralle überallhin Verästelungen ausstreckt, scheine ich geradezu von innen her zu erblinden. Dieser Anfall soll praktisch der Reaktion bei einer Adrenalininjektion entsprechen. Und die Absonderung von Adrenalin soll ein wichtiges Kriterium für die Abgrenzung von Liebe zur einfachen Zuneigung sein. Dann bin ich also verliebt in die Farbe Grün?“
Das Buch ist es jedenfalls. Der Textfluss bricht immer wieder ab, um grün schraffierten Leerzeilen Platz zu machen. „Gern darf der Leser hier seine Gedanken einfügen“, sagt die Autorin. Oder Antworten finden auf Fragen, die sie sich gestellt hat: „Wie sieht die Dunkelheit über dem Atlantik aus? Gibt es eigene Ideen? Können Gedanken messerscharf sein? Denkst Du das Tiefste? Wird die Kunst ständig sterben?“
„Auf der Hälfte der Reise gab es einen Punkt, wo ich psychisch und körperlich so am Ende war, dass ich aufgeben wollte“, sagt Christiane Fichtner.
Aber auch der Held in David Lynchs Film „The straight story“ gibt nicht auf, als er auf seinem Rasenmäher 500 Meilen über den Highway tuckert, um sich mit seinem Bruder auszusöhnen. Christiane Fichtner hat den Film irgendwann gesehen; er hat sie inspiriert. Irgendwann haben sich beide entschieden loszufahren, der Mann im Film, die Frau im Leben. Es musste sein.
Von den Zweifeln, der Verzweiflung und der seltsamen Lust daran erzählt das Buch. Und der Traktor mit seinen Kugellampen hält stumm die Wacht neben den Texten. Alexander Musik
Christiane Fichtner: Notizen einer langsamen Bewegung, erschienen im Eigenverlag. Präsentation: heute, 20 Uhr, im Lagerhaus bei Proppers Slam Poetry