Die Taliban in Pakistan: Jetzt sind sie die Verbrecher
Erstmals unterstützt eine Mehrheit der Pakistaner das Vorgehen der Regierung gegen die Taliban. Die Regierung muss jetzt die Flüchtlingsproblematik in den Griff kriegen.
LAHORE taz | Die Attentäter kommen in einem Lieferwagen. Sie halten vor der Sicherheitsschleuse des Polizeinotrufgebäudes im Zentrum der ostpakistanischen Stadt Lahore. Wachleute gehen auf den Wagen zu, aus dem plötzlich vier Bewaffnete herausspringen. Zwei von ihnen erschießen die Wächter, zwei weitere stürmen auf die Straße und feuern auf Fußgänger und Autofahrer. Augenblicke später erschüttert eine gewaltige Explosion die gesamte Stadt. 27 Menschen sterben, hunderte werden verletzt.
Der Anschlag vor knapp zwei Wochen war eine Machtdemonstration der "Pakistanischen Taliban", die im Nordwesten des Landes immer stärker in die Defensive geraten. Und wieder, bereits zum dritten Mal in diesem Jahr, traf es Lahore, die Hauptstadt der Provinz Punjab und in vielerlei Hinsicht das Herz Pakistans. Nun sichern Polizisten das Trümmerfeld. Sie wirken nervös und starren angespannt auf jedes Auto, das an ihnen vorbeifährt.
Ghulam Dastagir saß gerade in seiner Motorradwerkstatt auf der anderen Straßenseite, als der Angriff passierte. Als er sah, wie die Attentäter auf der Straße Menschen erschossen, ist er weggerannt. Jetzt ist er maßlos wütend auf die Pakistanischen Taliban. Er sagt: "Mir ist nicht klar, was die wollen. Das hier war eine Gräueltat, ein Verbrechen. Unschuldige Menschen sind gestorben." Passanten stimmen ihm zu: Die Taliban seien keine "Vorkämpfer des Islam", wie sie immer behaupteten, sondern schlicht Verbrecher.
Beinahe jede Woche kommt es derzeit zu einem größeren Anschlag in Pakistan. Vergangenes Wochenende sprengte sich neben der Notrufzentrale in Islamabad ein Selbstmordattentäter in die Luft und tötete mehrere Polizisten. Erst am Dienstag griff ein Selbstmordkommando mit einer etwa 500 Kilo schweren Bombe das Luxushotel Pearl Continental in Peschawar an, der Hauptstadt der unruhigen Nordwestgrenzprovinz. Das Gebäude wurde teilweise zerstört, auch zwei ausländische UN-Mitarbeiter starben.
Die Botschaft ist deutlich: Pakistans Bevölkerung wird einen hohen Preis bezahlen, wenn die Armee ihre Ende April begonnene Offensive gegen die islamistischen Milizen nicht einstellt.
Auch deswegen ist in den vergangenen Wochen die Stimmung im Land gekippt. Lange waren die meisten Pakistaner davon überzeugt, dass der Konflikt im Grenzgebiet zu Afghanistan sie nichts anginge. Sobald die US-geführten Truppen das Nachbarland Afghanistan verlassen würden, würden die Anschläge aufhören, so glaubte man.
Auch die Regierung in Islamabad war noch Anfang des Jahres der Überzeugung, den Konflikt durch Zugeständnisse eindämmen zu können. Im März unterzeichnete Präsident Asif Ali Zardari ein Abkommen, wonach die Scharia - das islamische Recht - im Swat-Tal nordwestlich von Islamabad eingeführt werden darf. Dort kämpft seit Jahren eine Miliz des radikalen Klerikers Mullah Fazlullah für einen Gottesstaat nach dem Vorbild Afghanistans unter den Taliban. Nur eine Woche später marschierten Fazlullahs Anhänger in die Region Buner südlich des Swat-Tals ein. 100 Kilometer von der Hauptstadt Islamabad entfernt errichteten Talibankämpfer Straßensperren, sprengten Schulen in die Luft und massakrierten Polizisten und Regierungsbeamte. Die Regierung in Islamabad und die Armee waren blamiert.
Der Radikalislamist Sufi Mohammad, der den Scharia-Deal ausgehandelt hatte, erklärte in aller Öffentlichkeit, er lehne Pakistans Verfassung ab, da "Demokratie und Islam unvereinbar" seien. Kurz darauf strahlten alle Fernsehsender des Landes ein Video aus, das im Taliban-Gebiet aufgenommen worden war. Auf dem etwa zweiminütigen Clip ist zu sehen, wie zwei Taliban-Kämpfer eine junge Frau vor Dutzenden Beobachtern auf den Boden drücken. Ein dritter prügelt wieder und wieder, insgesamt 34-mal, auf das Mädchen ein, das sich vor Schmerzen und Scham auf dem Boden windet und schreit. Die Aufnahmen versetzten den Menschen in Pakistan einen Schock.
Pakistans größte Oppositionspartei, die Nawaz-Muslimliga (PML-N) des früheren Premiers Nawaz Sharif, stellte sich hinter die Regierung und forderte zum ersten Mal, Armee und Regierung sollten gegen die Taliban vorgehen. Die Armee begann ihre Offensive gegen die Taliban-Kämpfer in Buner und in Swat.
"Es scheint, als herrsche nun Einigkeit darüber, dass das unser Krieg ist und Pakistan ihn ausfechten muss", sagt Farrukh Saleem, der Leiter des Center for Research and Strategic Studies (CRSS) in der Hauptstadt Islamabad. "Die Auspeitschung dieses Mädchens hat etwas ausgelöst. Und die Rede von Sufi Mohammad hatte sicherlich gewaltigen Einfluss."
Doch die öffentliche Meinung könnte sich schon bald wieder gegen die Regierung wenden. Schon jetzt sind mehr als zwei Millionen Menschen vor den Kämpfen geflohen. Sie sind bei Freunden und Verwandten im ganzen Land untergekommen oder übernachten in Schulen und Versammlungshallen. Hunderttausende leben in Flüchtlingslagern am Rand des Kampfgebiets. Ihre Lage wird immer dramatischer.
Das Flüchtlingslager Yar Hussain in Swabi, rund 100 Kilometer westlich von Islamabad, ist eines dieser Lager. Tausende weiße Zelte ziehen direkt neben dem Islamabad-Peschawar-Highway bis an den Horizont. Die Gluthitze des pakistanischen Sommers drückt erbarmungslos auf die staubige Ebene. An manchen Tagen steigt die Temperatur auf über 40 Grad. Jeden Tag treffen hier hunderte Menschen aus dem Kriegsgebiet ein. Eine Frau telefoniert mit einem Handy mit Verwandten im Swat-Tal. Sie sagt: "Ich weiß, dass es hier unerträglich ist. Kommt trotzdem her. Dort, wo ihr seid, ist es zu gefährlich."
Unter einem provisorisch aus Bastmatten errichteten Vordach sitzen rund hundert Frauen auf dem Boden. Regierungsbeamte stellen Personalausweise aus, ohne die es keinen Zugang zu Hilfsgütern gibt. Für einige der Frauen ist kein Platz im Schatten. Sie sitzen in der glühenden Mittagssonne, manche von ihnen wiegen schreiende Kleinkinder in ihren Armen.
Ein Mann Anfang 40, auch er trägt ein kleines Mädchen im Arm, schaut fassungslos auf die Szene. Er stamme aus Mingora, sagt er, der größten Stadt im Swat-Tal, und sei zu Fuß gekommen. Er sagt: "Die Ausweise der meisten Frauen in Swat sind abgelaufen, weil die Taliban ihnen nicht erlaubt haben, zu den Regierungsstellen zu gehen, um sie zu verlängern." Doch die Prozedur dauere drei Tage. "Wieso bekommen die das nicht in einem Tag hin? Das hier ist unnötige Quälerei."
An der Ausgabestelle des Lagers drängen sich hunderte Männer. Eine Hilfsorganisation hat Decken und Matratzen geliefert. Das Gedränge wird immer größer. Die schwer bewaffneten Soldaten und Grenzschutzpolizisten, alle selbst Paschtunen, brüllen die Männer an. Plötzlich prügeln sie mit Schlagstöcken auf sie ein. "Die müssen das machen", sagt ein Beobachter. "Sonst gäbe es hier im Lager eine Blutfehde mit vielen Toten."
Neben der Essensausgabe steht eine Gruppe Männer mittleren Alters und diskutiert aufgeregt. Abdul Jabbar Shah, 52, hat einen langen, grauweißen Bart und trägt einen Salwar Kameez, das traditionelle Langhemd. "Wir wollen, dass der Name Taliban komplett ausgelöscht wird!", sagt er. Die Taliban "sind daran schuld, dass wir in diesen Lagern leben müssen".
Doch die Lage der Flüchtlinge dürfte sich weiter verschlimmern. Kampfjets haben in den vergangenen Tagen begonnen, das Grenzgebiet zu Waziristan, der Hochburg von al-Qaida und der Taliban in Pakistan, zu bombardieren. Ein Einmarsch der Armee in dieses Gebiet würde eine weitere Million Menschen aus dem Kriegsgebiet vertreiben.
In Karatschi, im Süden des Landes, kommt es bereits jetzt zu Zusammenstößen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, die ihre Einkommensbasis durch die vielen Vertriebenen gefährdet sehen. "Was sich in diesen Flüchtlingslagern abspielt, ist am Rand einer humanitären Katastrophe", sagt Gregor Enste, Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Lahore. "Wenn die Lager an die Grenze ihrer Kapazitäten stoßen, könnte eine andere Stimmungslage entstehen, vor allem wenn der blutige Bürgerkrieg während des vierwöchigen Ramadan, der Mitte August beginnt, weiter anhält." Bis dahin müssten Armee und Politik Ergebnisse vorzeigen. "Sonst schlägt die Stimmung wieder zugunsten der Taliban um."
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