: Die Suche nach Erinnerung
Am Anfang war der Krieg. Charles Simic, der US-Amerikaner, stammt aus Europa: „Das große Geheimnis, das nie ganz zu fassen war: / Wissen, wer Ich ist ...“ Für Simic, geboren 1938 in Belgrad, bedeutet der Zweite Weltkrieg grausame Erfahrungen: „Überall ließ ich Teile meiner selbst liegen, / wie zerstreute Menschen.“ Nach dem Sieg der Alliierten eskaliert die politische Polarisierung innerhalb der jugoslawischen Gesellschaft, nicht zuletzt auch in Simics eigener Familie. Die Ehe der Eltern ist zerrüttet, der Vater wandert nach Amerika aus. Der Junge stromert durch eine Trümmerwelt, auch emotional: „Ich hatte ein sehr klares Gefühl meiner selbst im Leben – allein, zutiefst bewegt.“ Die Familie folgt schließlich 1953 dem Vater in die USA. Euphorisch entdeckt der junge Simic die Neue Welt: „Ich mochte Amerika sofort.“
Lakonisch erzählt der Lyriker Charles Simic seine Lebensgeschichte. Sie bildet mit einer Auswahl von fünfzig Gedichten, die Hans Magnus Enzensberger besorgt und übersetzt hat, das Buch von Göttern und Teufeln (München 1993), bislang Simics einzige deutsche Veröffentlichung. Wie beiläufig schildert er in dem autobiografischen Essay „Am Anfang ...“ seine Beschädigungen, er muß sich aber auch eingestehen: „Meine Erinnerung ist so schwach, daß alles schlecht beleuchtet und voller Schatten aussieht.“
Amerika gebar den Lyriker Charles Simic, denn mit der neuen Sprache kamen die Gedichte: „Alles, was du nicht verstanden hast, / hat dich zu dem gemacht, was du bist.“ Simic ist ein unablässiger Erinnerungssucher, was ihm dunkel und verschattet scheint, kann nur das „Schreiben zurückbringen.“ Seine Gedichte handeln vermeintlich von banalen alltäglichen Begebenheiten, von verschiedenartigsten Lebens-Facetten, die Simics Gespür für feine, ironische und oft blutige Beobachtungen zeigen. In dem Gedicht „Fürchterliches Spielzeug“ heißt es: „Die Geschichte probiert ihre Schere / im Dunkeln aus, so / daß am Ende allem und jedem / ein Arm fehlt oder ein Bein.“
Diese einfach scheinende Lyrik umspannt Staunen und Entsetzen gleichermaßen. Ihre Leichtigkeit birgt Schrecken – und Furcht: „Einer gibt sie dem andern weiter, / die Furcht, und weiß nichts davon, / wie ein Blatt seinen Schauder / weitergibt an das nächste. // Auf einmal zittert der ganze Baum, / und vom Wind keine Spur.“
Simics Gedichte sind reich, weil sie beides sind, europäisch und US-amerikanisch, alltäglich und hintergründig, knapp und komplex – sie sind ein Glücksfall.
Frauke Hamann
Heute abend liest Charles Simic um 20 Uhr im Literaturhaus, Schwanenwik 38
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