Die Suche geht immer weiter

■ Beim Suchdienst des Roten Kreuzes ist der Weltkrieg immer noch nicht zu Ende / Einrichtung übermittelt zugleich Nachrichten ins jugoslawische Kriegsgebiet

Werner Lerch steigt jeden Morgen eine schmale steile Treppe zu seinem Büro hinauf. In dem verwinkelten Haus am S-Bahnhof Wannsee mit seinen bescheidenen kleinen Büroräumen und langen engen Fluren ist der Weltkrieg auch noch fast fünfzig Jahre danach nicht zu Ende, wären da auf dem Korridor nicht die vergilbten Plakate mit Fotos von Kriegswaisen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Kinder von damals, die bis heute noch nichts über ihre Familien wissen, jemals erfahren werden, wer ihre Eltern sind, ist fast Null. „Je länger es dauert, um so unwahrscheinlicher ist das“, sagt der Leiter des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes, Werner Lerch.

Mit dreieinhalb festangestellten und sechs ehrenamtlichen Mitarbeitern muß er ein Riesenpensum an Arbeit bewältigen. Im letzten Jahr wurden etwa 10.000 schriftliche und telefonische Anfragen zu Kriegs- und Zivilverschollenen bearbeitet, und etwa 4.000 Angehörige und Freunde von Vermißten kamen persönlich vorbei. Von den mehr als 600 Suchaufträgen betraf etwa die Hälfte Personen, die durch den Mauerbau getrennt wurden. Im Gegensatz zur Aufklärung der Schicksale von Wehrmachtsangehörigen, die in der ehemaligen Sowjetunion oder in Lagern des KGB in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone ums Leben gekommen sind, sind die Ost-West-Suchmeldungen bedeutend leichter zu klären. So liegt die Aufklärungsquote dann auch bei 40 Prozent. Für Lerch ein „sehr zufriedenstellendes“ Ergebnis. Mittlerweile haben diese Ost-West- Suchmeldungen aber „entschieden nachgelassen“, so Lerch.

Zusätzliche Arbeit bedeutet für Lerch und seine Mitarbeiter die Öffnung der Archive in der ehemaligen Sowjetunion. Seit Anfang dieses Jahres richtete die Zentrale in München 500 Anfragen an den Berliner Suchdienst. „Diese klärenden Nachrichten wollen wir den Antragstellern zukommen lassen“, sagt Lerch. Oft aber ist es schwer, Angehörige, die vor 45 und mehr Jahren einen Verschollenen gesucht haben, zu finden. Die meisten sind inzwischen verstorben, und mit Hilfe der Einwohnermeldeämter muß nun nach Verwandten geforscht werden. „So viele Jahre nach Kriegsende wird es wohl keine überraschenden Mitteilungen mehr geben“, ist Lerch sicher, „aber Gewißheiten.“

Seit dem Ausbruch des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien übernimmt der Suchdienst zusätzlich auch noch Aufgaben der Post. Er sortiert, registriert und leitet persönliche Nachrichten von und nach Bosnien-Herzegowina weiter. Die Bundespost befördert zwar seit Ende Mai wieder Briefe dorthin, doch ohne Gewähr für die ordnungsgemäße Auslieferung der Sendungen. So ist die Zahl der sogenannten Red Cross Messages in diesem Jahr enorm gestiegen. Im letzten Jahr wurden von Berlin, wo etwa 40.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien leben, ungefähr 6.000 persönliche Nachrichten von und nach Bosnien-Herzegowina an die Zentrale in München weitergeleitet, die diese an den Suchdienst des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) nach Zagreb übermittelt. Allein von Januar bis Mai ist die Zahl der Briefe auf fast 20.000 gestiegen. „Die Tendenz ist weiter steigend“, sagt Lerch. Die persönlichen Nachrichten sollen helfen, ein „Verschollenenproblem“ wie nach dem Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Das Brief-Formular ist zugleich auch ein Suchantrag. Wird der Adressat nicht gefunden, geht die „Fahndung“ weiter, und die Gesuchten werden in einer Datenbank erfaßt. IKRK-Delegierte suchen dann vor Ort in Gefängnissen und Lagern.

Ein junger Mann aus Srebrenica gibt bei Werner Lerch einen dicken Stapel Briefe ab. Er lebt seit sechs Monaten in Berlin und will seinem Vater und den Schwestern Nachrichten aus seiner vorübergehenden Heimat schicken. Auch Fotos sind dabei. Da es keine Polaroidfotos sind, heftet sie Lerch an die Vordrucke. Wären es Polaroidfotos, müßte er sie dem jungen Mann zurückgeben. Denn oft wird versucht, diese so zu präparieren, daß Geld darin versteckt werden kann. Aber das ist verboten, so Lerch. „Denn wir wissen nicht, in wessen Hände das Geld gelangt“, gibt er zu bedenken, „vielleicht werden ja Waffen davon gekauft.“ Auch das Zeigen nationaler Symbole auf Fotos oder das Übermitteln militärrelevanter Informationen ist nicht erlaubt. „Schon das Zeigen des Victory-Zeichens“ könne unter Umständen als Provokation empfunden werden. „Wir haben kein Interesse zu zensieren“, betont Lerch, „das machen schon andere.“ In Zagreb werden alle Briefe, die ankommen und weggeschickt werden, gelesen und gegebenenfalls zensiert.

In dem engen Keller des Suchdienstes stapeln sich in Ordnern und Schuhkartons mehr als eine halbe Million Suchanträge, von denen ein Großteil jetzt neu bearbeitet wird. Wie viele von den Uraltakten endgültig abgeschlossen sind, kann Lerch nicht sagen. „Wir wären lieber arbeitslos, als diese Arbeit machen zu müssen“, sagt er über seine oftmals traurige Aufgabe, nach langen Recherchen im Keller, bei Landeseinwohnerämtern, der ehemaligen Wehrmachtsauskunftsstelle, Standesämtern und Nachlaßgerichten Todesnachrichten übermitteln zu müssen.

Von seinen Mitarbeitern erwartet er Verständnis für die Antragsteller, gesunden Menschenverstand und die Fähigkeit, einfach nur zuhören zu können. „Das hat man heute so selten“, sagt er nachdenklich. Auch wenn der Suchdienst manchmal die falsche Anlaufstelle ist, bemühen sich Lerch und seine Mitarbeiter zu helfen, und sei es nur, um die Suchenden auf „die richtige Fährte“ zu setzen. „Jeder möchte doch wissen, aus welchem Stall er kommt“, sagt Lerch, dessen Vater seit dem Zweiten Weltkrieg vermißt ist.

Suchdienst des DRK, Am Sandwerder 3, 14106 Berlin, Tel.: 803 60 56, Sprechzeiten: Mo.–Do. 8–12.30 Uhr, 13–14 Uhr, Fr. 8–12 Uhr Barbara Bollwahn