■ Die Subventionierung der Sozialbeiträge unterstützt nicht die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern die Unternehmen: Drei Irrtümer der Billiglohnstrategie
Nach dem Abgang der Neoliberalen nimmt eins von Gerhard Schröders Wahlversprechen langsam Gestalt an: Der Kanzler macht wenig anders, aber gibt sich alle Mühe, es besser als sein Vorgänger zu machen. Das gilt zum Beispiel für die Schaffung eines Niedriglohnsektors, der schon unter den Neoliberalen auf dem Zettel stand. Dessen Durchsetzungschancen sind heute wesentlich besser, weil er nicht in Konfrontation, sondern – im Bündnis für Arbeit – im Konsens mit den Gewerkschaften auf den Weg gebracht werden soll. Begründungen und Ziele sind die gleichen, aber die Methode ist wesentlich effektiver. Das Problem ist: Die Diskussion geht heute wie damals von drei Irrtümern aus.
Erstens gibt es weder einen theoretisch plausiblen noch einen auf praktische Erfahrungen gestützten Grund, niedrige Löhne für ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu halten. Wenn es nicht so zynisch wäre, müßte man Ostdeutschland als einen gigantischen Feldversuch bezeichnen, wo auch nach zehn Jahren Niedriglohn alles andere als ein Beschäftigungsparadies entstanden ist. Obwohl die Einkommen zwischen 20 und 50 Prozent unter den vergleichbaren Westeinkommen blieben, sind die neuen Arbeitsplätze nicht hier, sondern im alten Westen der Bundesrepublik entstanden.
Die pseudowissenschaftliche Annahme, daß Unternehmer Arbeitsplätze schaffen, wenn die Löhne sinken, gründet sich auf nichts anderensals den gesunden Alltagsverstand. Weil jeder weiß, daß er sich bei sinkenden Bierpreisen ein Glas mehr leisten kann, liegt es nahe, das auch für den Kauf von Arbeitskräften anzunehmen. Doch Arbeit verursacht nicht nur Kosten, sondern ist auch Kaufkraft, weshalb niedrige Löhne zu niedriger Nachfrage und damit zu niedriger Beschäftigung führen – etwa im Handel oder in der Gastronomie.
Das ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch beweisbar. Die Unternehmergewinne sind seit 1992 netto um 44 Prozent gestiegen und die Nettolöhne um nur 3 Prozent. Wenn ein so himmelschreiender Gegensatz zwischen Gewinn- und Lohnentwicklung keine Arbeitsplätze gebracht hat, was soll dann ein neuer Niedriglohnsektor?
Der zweite Irrtum besteht in der Unterstellung, daß die Löhne insgesamt so hoch und so wenig differenziert sind, daß man jetzt endlich einmal einen Sektor mit niedrigen Löhnen brauche. Aber erstens ist die Lohnspreizung in den vergangenen Jahren immer größer geworden – man denke nur an die enorme Zunahme von 630-Mark-Jobs –, so daß es zweitens längst schon einen gewaltigen und immer größer werden Niedriglohnsektor gibt. 22 Prozent der Westdeutschen und über ein Viertel der Ostdeutschen arbeiten bereits zu Löhnen, die kein existenzsicherndes Einkommen abwerfen. Sie liegen unter 1.400 Mark und befinden sich damit nach EU-Kriterien unter der Armutsgrenze.
Drittens wird der Eindruck erweckt, als gäbe es im Dienstleistungsbereich eine ungeheure Nachfrage, die nur nicht befriedigt wird, weil sich die Arbeitslosen in der Hängematte hoher Lohnersatzleistungen räkeln. Aber unabhängig davon, daß diese Aussage in der Regel von Leuten stammt, deren Lebenserfahrung durch manches, nicht aber durch Arbeitslosigkeit geprägt ist, ist auch die sogenannte Dienstleistungslücke nicht mehr als ein Nebelvorhang, hinter dem das Bedürfnis der Besserverdienenden nach Dienstboten verschleiert werden soll. Gerade aus jüngster Zeit liegen genügend Untersuchungen vor, die zwar einen großen Bedarf an hochqualifizierten personenbezogenen und industrienahen Dienstleistungen feststellen – worauf die PDS-Idee von einem öffentlich geförderten Beschäftigungssektor in diesen Bereichen gründet.
Eine Dienstleistungslücke für gering qualifizierte und gering bezahlte Arbeiten haben sie allerdings nicht gefunden, es sei denn, man denkt dabei an Tätigkeiten wie Schuhe putzen, Brötchen zustellen oder im Supermarkt die Einkaufstüten packen. Gemeint ist dann aber keine Dienstleistungs-, sondern eben eine Dienstbotenlücke. Wie weit sich das mit dem verfassungsrechtlich verbrieften Sozialstaat und der Menschenwürde verträgt, ist mindestens so fragwürdig wie das Hombach-Motto „Es gibt keine Drecksarbeit, und jeder Job ist besser als keiner.“ Aber genau im letzten dieser drei Irrtümer liegt das Körnchen Wahrheit über den angeblichen Hoffnungsträger Niedriglohnsektor.
Über dem unteren Viertel, das zu Löhnen unterhalb der Armutsgrenze arbeiten muß, gibt es das obere Viertel der Besserverdienenden, insbesondere der Bezieher von Gewinn- und Vermögenseinkommen, die sich so manch dienstbaren Geist leisten würden, wenn er denn billig zu kaufen wäre. Nur ist das dann eine ganze andere Gesellschaft, und es ist schon pikant, daß ausgerechnet die Sozialdemokratie in eine Gesellschaftsstruktur zurück will, die einmal zu ihrer Gründung führte.
Bleibt noch die andere, gern verschwiegene Wahrheit, nämlich die über die eigentlichen Nutznießer. Wenn vorgeschlagen wird, daß bis zu einem Arbeitseinkommen von 1.500 Mark die Sozialbeiträge voll subventioniert werden sollen und von da an bis 2.800 Mark gestaffelt, dann werden damit weder neue noch alte Arbeitskräfte subventioniert, sondern Unternehmen. Und diese werden jede Verbilligung ihrer Arbeitskräfte dankend in Kauf nehmen.
Das aber kostet Milliarden, und der mögliche Beschäftigungseffekt steht in keinem Verhältnis dazu. In der aktuellen Diskussion ist von mindestens 15 Milliarden Mark die Rede. Nach Berechnungen des IAB bleibt dabei aber unberücksichtigt, daß bei Subventionierung von Niedriglöhnen schon heute über neun Millionen Beschäftigte Anspruch auf einen Zuschuß hätten. In Ostdeutschland beträfe das fast die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse.
20 bis 30 Milliarden Mark müßten dafür insgesamt aufgebracht werden – und schon ist Eichels Sparpaket perdu. Der entscheidende Schwachpunkt des subventionierten Niedriglohnsektors ist ein enormer Druck auf das Einkommensniveau und das Tarifgefüge insgesamt. Darüber hinaus sind massive Mißbrauchsrisiken und riesige Mitnahmeeffekte nicht auszuschließen. Das Problem acht Millionen fehlender Arbeitsplätze wird damit nicht gelöst. Wie wir aus dem millionenfachen Mißbrauch der 630-Mark-Jobs lernen mußten, führen Niedriglöhne nur zur Verdrängung regulärer Beschäftigung. Der Einzelhandel ist dafür ein anschauliches Beispiel: Die Zunahme an geringfügiger Beschäftigung zu 630 Mark hat nicht zu mehr Arbeitsplätzen, sondern zum Abbau von Vollzeitjobs geführt. Womit wir wieder beim Anfang wären – beim Zusammenhang von Kaufkraft und Beschäftigung. Heidi Knake-Werner
Es gibt keinen Grund, niedrige Löhne für ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit zu haltenArbeit ist nicht nur ein Kostenfaktor, sondern schafft auch Kaufkraft
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