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Die Stunde der Amateure

Bisher galten die Anfänge der Filmkunst als europäische Angelegenheit. Doch das durch Deutschland tourende Filmprogramm „Unseen Cinema“ präsentiert nun auch eine frühe US-Kinoavantgarde

Diskutabel bleibt, ob der Avantgardebegriff sostark ausgeweitet werden kann, dassseine Herkunft aus militärischem Slang und damit sein kämpferischer Anspruch ignoriert wird

von URS RICHTER

Wie jede andere Geschichte auch, wird die Geschichte des Films geschrieben in Hinsicht auf interne Schlüssigkeit. Epochen und Stile lösen einander folgerichtig ab, Standards halten sich, Neuerungen werden aus Bekanntem abgeleitet. Für Phänomene, die durch herkömmliche Beschreibung nicht zu erfassen sind, bleiben Nischen reserviert. Die heißen dann „Independent“, „Avangarde“, „Autorenkino“ oder „Experimentalfilm“. Auch deren Geschichte lässt sich kanonisieren, auch hier werden Schulen, Konzepte, Werkzusammenhänge definiert, Höhepunkte und Großmeister erkoren.

Die Aufteilung der Filmgeschichte in einen Haupt- und einige Nebenarme setzt ein, kaum dass sich das neue Medium als publikumstauglich erweist. Der Faustregel zufolge erfinden die Pioniere der Kinematografie in Amerika das Genre – und in der Alten Welt die Filmkunst. Für Genies, Experimente und Revolutionen sind Moskau, Paris und Berlin zuständig, für Melodram, Komödie und Western ein staubiges Kaff vor Los Angeles’ Toren. Zügig wird „Hollywood“ der Inbegriff jener Produktionsweise, für die Herr Adorno und Herr Horkheimer später das böse Wort Kulturindustrie prägen. Kino als Kunstform auf Augenhöhe mit der Architektur, Malerei, Musik und Literatur ihrer Zeit: So ist die russische und europäische Filmavantgarde zu rechtfertigen, die sich fleißig den diversen Ismus-Bewegungen des beginnenden Jahrhunderts anschließt. Zwischen den Kriegen versteht Hollywood es dann, sich die europäischen Emigranten und Ideen sehr schnell einzuverleiben und die künstlerische Ambition eines Lang, Murnau, von Stroheim in den Betrieb des Studiosystems einzubetten.

Die Geburtsstunde einer nichtepigonalen, originär amerikanischen Filmkunst wird gemeinhin erst auf die Aufführung von Maya Derens surrealistischem Poem „Meshes in the Afternoon“ 1943 datiert. Später folgen die Experimente von Kenneth Anger und Stan Brakhage, noch später die Undergroundfilme aus Warhols Factory. Filme, die, so verschieden sie sind, eine ignorante, um nicht zu sagen: aggressive Haltung gegenüber dem bis zur Perfektion getriebenen klassischen Hollywoodstil vereint. Amerikas Avantgarde hat gründlich aufgeholt.

Aber war überhaupt etwas aufzuholen? 1995 gibt der Filmhistoriker Jan-Christopher Horak eine Aufsatzsammlung heraus mit dem Titel „Lovers of Cinema. The first American Film Avant-Garde, 1919–1945“. Darin vertritt er die These, auch in Amerika habe bereits seit den frühen 20ern eine experimentierfreudige Bewegung aus Amateuren, Industriefilmern und etablierten Regisseuren eine Ausweitung der filmischen Grenzen betrieben, die den Titel „avantgardistisch“ durchaus verdiene und nicht abzuwerten sei als maue Kopie der europäischen Originale. Nach Horak agierte diese frühe amerikanische Avantgarde im stillen Kämmerlein privater Filmclubs, mittels technisch elaborierter Dokumentararbeiten, oder wurde an die unersättliche Unterhaltungsbranche verfüttert. Bis heute blieb sie unsichtbar, ihre Geschichte ungeschrieben.

In jahrelanger Such- und Restaurationsarbeit haben die Anthology Film Archives und das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt am Main Anschauungsmaterial zu Horaks These zusammengetragen und ein umfangreiches Programm erstellt. Nach dem viel beachteten Start im Witney Museum in New York geht es nun unter dem Titel „Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1893–1941“ auf Welttournee. Bis Mitte Januar ist die Retrospektive auch in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und München zu sehen, insgesamt 15 thematische Blöcke ordnen das ausgesprochen heterogene Material.

Fasziniert macht sich das junge Medium mit seinen eifrigen Pionieren gleich zu Beginn auf in die Großstadt. Das Programm „Picturing a Metropolis: New York City Unveiled“ sammelt Blickwinkel auf Manhattan. Und beginnt tief unten: „Interior N. Y. Subway“ (1905) präsentiert die Perspektive aus dem Führerhäuschen der U-Bahn. Rasant beschleunigt, folgt die Kamera einem Schlusswaggon, in dessen Lichtkegel hunderte Tunnelstützen vorbeihuschen und eine flackernde Schwarzweißgrafik erzeugen. Dann hält der Zug, Damen und Herren in langen Mänteln steigen ein und stellen die funktionale Alltäglichkeit der großstädtischen Errungenschaft unter Beweis – so vermischen sich urbaner Stolz und Begeisterung über die technischen Möglichkeiten des Filmapparates. „Skyscraper Symphony“ (1929) von Robert Florey, einem Regisseur, der bruchlos zwischen Hollywoodindustrie und privaten Filmexperimenten wechselte, objektiviert die Ansicht. Verkantet stehen Hochhausfassaden gegen den Himmel, werfen lange Schatten in Straßenschluchten, ragen mal rechts, mal links in den Rahmen, den menschgemachten Umtrieben zu ihren Füßen enthoben. Floreys Architekturstudie ist ganz hübsch, lässt aber eine eigene Vorstellung von Modernität vermissen. Dagegen zeigt „Footnote to Fact“ von Lewis Jacobs ein in der Tat unverschleiertes New York. Die Montage aus Werbeschildern, Werktätigen und Schweineköpfen wird unterschnitten von einem ekstatisch wippenden Frauenantlitz. Als die vorerst nur auf Theaterplakaten angekündigten forgotten men dann zunehmend ins Bild geraten, die Rezessionsverlierer, Obdachlosen und Kranken, dichtet die delirierende Frau das Fenster ab und dreht den Gashahn auf. Harter Stoff von 1933.

Dass sich die frühe Avantgarde auch aus den Mitgliedern der Amateurfilmclubs rekrutiert, illustriert das Programm „Cinema’s Secret Garden: The Amateur as Auteur“. 1924 bringt Eastman Kodak den 16-mm-Film mit dazugehöriger Kamera auf den Markt. Der Laienfilm erlebt einen Boom. „Little Geezer“ (1932) von Theodor Huff stellt das aufgeblühte Genre des Gangsterfilms mit Kinderdarstellern nach. Kleine Strolche spielen Scarface, „Greta Garbage“ flieht vor „Big Shot“, eingestreute Montagen aus aufgerissenen Mündern und Pistolenläufen imitieren Eisenstein – und der avantgardistische Anspruch wird nicht unmittelbar ersichtlich.

Deutlich kühner dagegen ist „Rose Hobart“ (1936) von Joseph Cornell. Dem Liebhaber alter Filme fiel eine Kopie des zu Recht vergessenen Melodrams „East of Borneo“ (1931) in die Hände. Er schnipselte daraus eine erotisierte Orientfantasie zusammen, unterlegte schwülen Haremspop und präsentierte das Werk einem verdutzten Galeriepublikum. Einzig der anwesende Salvador Dalí erkannte Cornells Genie und trat aus eifersüchtigem Zorn gegen den Projektor.

Harmonischer geht es zu bei Archie   Stewart.   Seine   verfilmten Familienalben „Reel 66“ (1936–39) sind insbesondere lustig, weil die Kinder auf den Geburtstagspartys und Schlittenausflügen ziemlich brüllen müssen, damit der Ton überhaupt beim Mikro ankommt.

Das Programm „A F***ing Miracle! Revolutions in Technique and Form“ wartet sogar mit einer filmhistorischen Sensation auf. Lange war George Antheils Originalsoundtrack zum legendären „Ballet mécanique“ (1924) verschwunden. Wieder entdeckt und im vorgesehenen Höllentempo neu arrangiert, geht ein Gebolze aus Saiten, Sirenen und Motoren los, das Cecil Taylor noch hinters Klavier treiben würde. So wild die Musik, so wild die Entstehungsgeschichte des Films. Begonnen als Zusammenarbeit zwischen Man Ray und dem Regisseur Dudley Murphy, die sich im Paris des Dada pudelwohl fühlen, stößt später der Maler Fernand Léger als Geldgeber und Impresario dazu. Als Erstes schmeißt er die pornografischen Sequenzen hinaus, die Ray nebst Freundin Kiki und Ehepaar Murphy voneinander gedreht hatten und gedacht waren als ironische Zwischenschnitte zu pumpenden Breuelstangen und animierten Haushaltwaren. Ray steigt aus. Léger bringt einen kubistischen Papp-Chaplin ins Spiel. Murphy muss das Durcheinander aus Nonsenstexten, geloopten Waschweibern, kaleidoskopischer Weltschau und Kikis bezauberndem Lächeln zusammenschneiden. Auf Vermittlung Ezra Pounds finanziert die Mäzenin Natalie Barney schließlich Antheils Komposition. Am Ende erhält Murphy die amerikanischen, Léger die europäischen Aufführungsrechte. Der Film ist offensichtlich derart revolutionär, dass seine Schöpfer gar nicht anders konnten, als sich heillos über das geistige Copyright zu zerstreiten.

Die filmhistorische Redlichkeit der Retrospektive insgesamt lässt sich allerdings anfechten. Es ist nicht überzeugend, einzelne, experimentellere Abschnitte aus Werken von Frank Capra, Busby Berkeley oder Charles Vidor als Beweisstücke einer „versteckten“ Avantgarde im Herzen der Unterhaltung zu präsentieren, wenn die weitere Inszenierung dieser Filme schlicht bieder ist. Diskutabel bleibt auch, ob der Avantgardebegriff so stark ausgeweitet werden kann, dass seine Herkunft aus militärischem Slang und damit sein kämpferischer Anspruch ignoriert wird. Wer cineastische Avantgarde als planvolle Vorhut gegen Konventionen versteht, meint nicht Filme, deren Neuerungskraft sich lediglich in technischen Weiterentwicklungen des Equipments oder visuellen Experimenten ausdrückt. Dem hohen Anspruch, die Existenz einer uramerikanischen Avantgardebewegung vor 1940 zu dokumentieren, kommt „Unseen Cinema“ nicht nach, zumal Kurator Bruce Posner die Auswahl mit nichtamerikanischen Werken angedickt hat und gerade die Filme von Eisenstein, Duchamp und Man Ray zu den eigenwilligsten gehören. Die Reihe schreibt die Filmgeschichte sicherlich nicht um, fügt ihr aber eine Menge Fußnoten hinzu. Treffend ließe sich ihre Leistung wohl mit Horaks Buchtitel beschreiben: ein Programm der „Lovers of Cinema“ – für Kinoliebhaber.

Die verschiedenen Blöcke des Programms „Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1893–1941“ werden bis Januar in Berlin, Hamburg und München gezeigt.

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