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Die Straße der Tüllgardinen

■ „Coronation Street“, die erfolgreichste europäische Fernsehserie, wird dreißig

Der Großvater ringt nach Luft, sackt auf die Couch, Tochter und Enkelin stürzen zur Pose mittelalterliche Pietà-Darstellungen herbei.Großaufnahme der zitternden Mundpartie, Abblende. Geigen, Holzbläser und Logo. Wieder war das Leben für eine halbe Stunde interessant.

In Englands Vorabend ist die Welt noch in Ordnung. Das heißt: Amerika muß weitgehend draußen bleiben. Wenn überhaupt irgendwann, dann handelt es sich um diese Zeit noch um nationales Fernsehen, also eine Institution für den Commonwealth britischer Marotten zwischen Hunderennen, Billard und Kricket, neben deftigen Lebensbildern von wilden Hausfrauen, herzhaften Proletariern, Trinkern, Stegreifkomikern und Grantlern, die es genießen, das Leben zum Kotzen zu finden.

Die BBC erlaubt nur einen ausländischen Filmimport von etwa zwanzig Prozent. Das hat zur Ausbildung britischer Fernsehinstitutionen erheblich beigetragen. Die populärsten unter ihnen gehören dem Vorabend, die höchsten Einschaltquoten werden seit dreißig Jahren zwischen halb sechs und halb acht erzielt. Das ist die Zeit, in der der Engländer sein Fernsehen bekommt, ein Fernsehen, das seine Grillen bedient, seinem schier unersättlichen Hunger auf Selbstironie genügt und das er folgerichtig niemals „Glotze“ schimpfen würde, sondern liebevoll „the Telly“ nennt.

Der Fixstern im englischen Vorabendhimmel ist zugleich die Sendung, in der sich die typischen Merkmale der beliebten englischen Serien exemplarisch verdichten. Seit dreißig Jahren führt Coronation Street, die Endlos-Saga aus dem nordenglischen Weatherfield (Lancashire), die Top Ten der Einschaltquoten- Charts an. Folge für Folge liegt die Serie um durchschnittlich drei Millionen Zuschauer vor den Rivalen Neighbours und EastEnders und das, obwohl auch die letzteren mit einem stattlichen Aufgebot an Kopftüchern, Lockenwicklern, Gardinenspähern, Biergläsern, Rasensprengern und sabbernden Großvätern operieren.

Coronation Street aber ist etwas Besonderes. Hier erhalten alle Angehörigen der englischen Unter- und Mittelschicht eine zweite Biographie, unausweichlich und alltagsdramatisch wie die erste. Wer sich mit keinem Charakter aus Coronation Street identifizieren könne, so kürzlich der Honourable Labour MP Roy Hattersley, mit dem sei menschlich etwas faul. Damit nichts faul sei im Staate England, identifiziert sich die Nation lieber mit Coronation Street und hat sich an dieses nur leicht komprimiertere Zweitleben auf dem Schirm wie an das eigene Spiegelbild gewöhnt. Wenn heute in der Serie ein Baby geboren wird, weiß man, daß in fünfzehn Jahren seine erste Liebesgeschichte ausgestrahlt und zehn Jahre darauf seine Ehe in Turbulenzen geraten wird — vermutlich immer noch mit demselben Schauspieler. Nur werden in der Nachbarschaft ein paar Exil-Iraker wohnen und die Bitter-Preise (nicht mehr pro Pint, sondern pro Liter) gestiegen sein. Coronation Street geht nämlich mit der Zeit und das zwar erheblich langsamer als sie, aber inzwischen sind Mischehen und Personal Computer Coronation-Street-fähig, und spätestens daran kann man erkennen, daß ihnen auch im Leben nichts mehr wirklich entgegenzusetzen ist.

Coronation Street begann mit dem ersten Swingen der Sixties und swingte zwar nicht mit, entwickelte aber das Konzept einer zeitgemäßen Serie: unprätentiös, alltäglich, direkt und wenn schon moralisch, dann möglichst ohne Bevormundung von Figur und Zuschauer. Die von starken Drehbüchern herauspräparierten Figuren sind gemischte Charaktere, runde, interessante Gestalten, einfache Menschen mit komplizierten Lebensläufen neben komplizierten Menschen mit einfachen Lebensläufen. Indem sie den englischen Allerweltsmenschen fernsehfähig machte, hat Coronation Street die verlogene Intrigenschnulze Dallas erst recht in die Unwirklichkeit abgeschoben.

Coronation Street, die dreimal wöchentlich ausgestrahlte Fortsetzung des Lebens mit anderen Mitteln, erreicht dabei ähnlich wie ihr deutscher Wechselbalg Lindenstraße oft eine solche Präzision in der Darstellung von Gegenwart, daß sie schon heute als Fundgrube für Alltagssoziologen fungiert. Sie tut dies mit einer schamlosen Offenlegung der Studio-Inszenierung, der Bühneneinrichtung. Ihr Realismus unterschlägt nicht den Verweis auf die Herstellung der Alltagswahrheit im Medium Fernsehen. Das Ideal, von dem diese Sendung kündet, offenbart sich dabei nicht nur als Identifikationsmöglichkeit für jeden, sondern als Bezeichnung einer über die Sippe hinaus fortgesetzten familiären Gruppe: der positiven Geheimschaft im größeren, offeneren Verband der Großfamilie „Straße“ — eine Idee, in der ganz von ferne noch die Sechziger nachklingen mit ihren sentimentalen Vorstellungen von alternativen sozialen Verbänden. Daß die Mitglieder dieser Gemeinschaft keine Kommunarden sind, sondern Pfahlbürger, daß sie nicht gemeinsam baden, sondern sich durch die Gardine bespitzeln, ist weniger ein Tribut ans Massenpublikum als an die Wahrheit. Roger Willemsen

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