■ Die Sozialdemokratie und die Querelen um die 630-Mark-Jobs: Sozialpolitik mit Kratzern
Heute zeigt die SPD, daß politische Verabredungen nur eine geringe Halbwertszeit besitzen. Im Bundesrat wird sie mit hauchdünner Mehrheit das 630-Mark-Gesetz durchbringen. Eine Irrfahrt durch viele politische Streitereien, auch innerhalb der SPD, soll beendet werden. Nach Lesart der Bundesregierung wird ein politischer Prozeß korrekt abgeschlossen. Das stimmt – formal. Die Bundesratsentscheidung suggeriert nur den Abschluß eines politischen Verfahrens, denn sie ist ein Hilfskonstrukt.
Zum ersten Mal stößt die rot-grüne Regierung auf Widerstand aus den eigenen Reihen. Nordrhein- Westfalen und Niedersachsen stimmen nur des lieben Koalitionsfriedens wegen zu. Die beiden SPD-regierten Länder werden nämlich im selben Atemzug Korrekturen, respektive ein Änderungsgesetz, verlangen. Dabei nehmen sie dankend auch die Unterstützung von Bayern an.
Dieses Vorgehen ist legal, in der späten Kohl-Ära praktizierten es CDU-Länder. Im Falle des Gesetzes über die Minijobs aber ist es ein Zeichen, wie zerissen die SPD in ihrer Sozialpolitik ist. Im Bundesrat muckt nicht irgendwer auf. Gerhard Glogowski, Schröders Nachfolger in Niedersachsen, und Wolfgang Clement pflegen enge politische Freundschaften zum Kanzler. Möglicherweise teilt er ihre Bedenken, die Neuregelung könne 630-Mark-Jobs bei Zeitungsverlagen und im Gaststättengewerbe abbauen, und findet ihre Änderungswünsche auch ganz sympathisch. Offen kann sich Schröder nicht zu Clement und Glogowski bekennen, nachdem andere SPD-Ministerpräsidenten sie bereits abblitzen ließen.
Änderungsanträge, vorgetragen von Länderchefs, deren Partei der Regierung angehört, wirken ohnehin kurios. Die Glogowski-Clement-Initiative zeigt, wie labil die SPD in sozialpolitischen Fragen agiert. Als Programmpartei, die ihren politischen Willen im Konsens der verschiedenen Interessen formuliert, hatte sie sich vor der Bundestagswahl empfohlen. Im September wollte sie die Billigjobs noch abschaffen. Das Image der SPD als Partei für mehr soziale Gerechtigkeit hat seit heute einen neuen Kratzer.
Clement und Glogowski sollten sich fragen, ob eine Änderung des 630-Mark-Gesetzes es wert ist, den Vertrauensbruch zwischen Wählern und Regierung zu vertiefen. Kaum jemand, der einen Minijob hat, zahlt freudig in die Sozialkassen, zumal bestenfalls sieben Mark Rente am Ende herauskommen. Wer dann auch noch, wie Clement und Glogowski, dem Druck einzelner Arbeitgeber nachgibt und ihnen einen Extrakuchen backt, darf sich über ansteigendes Murren nicht wundern. Annette Rogalla
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