: Die Sowjetrepublik Moldau gerät in Fluß
Kaum beachtet von der Außenwelt wächst auch in der Sowjetrepublik Moldau eine Nationalbewegung heran / Anders als in den baltischen Staaten steht ihr eine konservative, zensierte Partei- und Staatsführung gegenüber, die bislang jede Legalisierung verweigert / Beschnew war Parteichef in der Hauptstadt Kischinjow ■ Von Erhard Stölting
Schriftsteller, Journalisten und Geisteswissenschaftler waren es, die im Juni 1988 ein Organisationskomitee von etwa 25 Personen gründeten. Der Programmentwurf dieses Komitees konnte bisher nur maschinenschriftlich zirkulieren. Vier große Massenversammlungen mit zum Teil über 15.000 Telnehmern haben seit dem letzten Jahr stattgefunden, die letzte am 15.Januar.Den Gründungskongreß, der im März eine Legalisierung erreichen soll, haben die Behörden bisher noch nicht genehmigt. Allerdings entstehen überall im Lande Unterstützungskomitees als Keimzellen einer neuen Organisation. Ohne eine wohlwollende Duldung der unteren Instanzen wäre das nicht möglich.
Die Sowjetrepublik zwischen Prut und Dnjestr umfaßt im Wesentlichen das ehemalige Bessarabien, einst Teil des unter osmanischer Oberherrschaft stehenden rumänischen Fürstentums Moldau und 1812 von Rußland annektiert. 1918 schloß sich Bessarabien gegen den Protest Sowjetrußlands und der damals unabhängigen Ukraine Rumänien an.
1940 mußte Rumänien Bessarabien zurückgeben. Nach einem rumänischen Zwischenspiel während des Krieges wurde das Gebiet 1944 wieder sowjetisch. Heute umfaßt das traditionell multinationale Gebiet 64 Prozent Moldauer bei einer Gesamtbevölkerung von 4,2 Millionen. Die übrigen sind vor allem Ukrainer, Russen und Roma. Der ehemals große jüdische Bevölkerungsteil ist von den Deutschen fast vollständig ermordet worden.Stalin verordnete die Deutung, daß das „Moldauische“ zwar mit dem Rumänischen verwandt, aber eine eigenständige Spache sei und ließ es fortan mit dem kyrillischen Alphabet schreiben. Nun fordert die neue Bewegung, nicht nur die Wiedereinführung der lateinischen Schrift, sondern das Moldauische soll auch offizielle Staatssprache werden. Die national gemischten Schulen sollen aufgelöst werden, jede Nation eigene Schulen erhalten und die Einwanderung aus den übrigen Sowjetrepubliken sei rigoros zu kontrollieren.
Die leidvolle Geschichte der Bevölkerung, vor allem die großen Deportationen von 1949, sollen aufgearbeitet und bekannt gemacht werden. Das historische Erbe wäre, so wird von der moldauischen Bewegung gefordert, durch die Restaurierung der verfallenden Kulturdenkmale im rumänischen Teil Moldawiens neu anzueignen.
Allerdings dürften die anderen Nationen nicht ihrerseits unterdrückt werden. So wird in den zirkulierenden Texten kritisiert, daß auch in ukrainisch besiedelten Gebieten vielfach nationale Schulen fehlen, und daß es für die Juden weder Erziehungs- noch Kulturinstitutionen gebe. Auch Ukrainer, Russen und Juden wurden daher zum Beitritt eingeladen und sollen auch im Gründungskomitee vertreten sein. Wie in den baltischen Staaten bildet sich hiergegen allerdings eine „internationalistische“ Gegenbewegung, die vor allem von Ukrainern und Russen getragen wird. Gefordert wird auch die Souveränität Moldawiens innerhalb eines sowjetischen Staatenbundes und das Recht, selbständig Beziehungen zu internationalen Organisationen und zu anderen Staaten aufzunehmen, etwa zu Rumänien. Die Affinität zu Rumänien bedeutet keineswegs eine Billigung des Ceausescu -Regimes: Das Moldau-Komitee besteht aus Anhängern der Perestroika.
So soll auch der innere Aufbau der Republik demokratisch und rechtstaatlich sein, ein Vetorecht gegenüber Gesetzen der Moskauer Zentrale sei außerdem nötig, um der Republik einen Spielraum für die Wahrnehmung ihrer spezifischen Interessen zu sichern.
Das Komitee möchte das landwirtschaftliche Profil des Landes erhalten und die ungehemmte Industrialisierung eindämmen, auch weil sie Immigranten aus der übrigen Sowjetunion anziehe. Im Interesse der Produktivität sei der „Pluralismus der Eigentumsformen“ zu fördern und das Land an die Bauern zurückzugeben.
Ein großes programmatisches Gewicht haben auch die ökologischen Probleme des Landes, vor allem die Vergiftung der Luft, des Wassers und der Böden. Um diese Frage kümmert sich auch eine kleine, aber anwachsende grüne Bewegung, die mit ähnlichen Organisationen in der Sowjetunion kooperiert und Kontakte zu den westlichen Grünen sucht. Ihr Initiator, der Journalist Vasile Nastase, ist Gründungsmitglied der moldawischen Bewegung.
I N T E R V I E W
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