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Die Schule der Nation

■ Frankreichs Schüler in Bewegung KOMMENTARE

In der Schule wird die Nation geboren“ — dieser Satz steht nicht im Stundenbuch eines pensionierten Studienrats, sondern in amtlichen Riesenlettern an der Mauer einer Schule in Saint Denis, dem Proletenvorort von Paris. Der Anspruch des Frankreichs des 19. Jahrhunderts, die Jungbürger durch ein Heer von ebenso unterbezahlten wie überforderten Lehrern aufzuklären, wird aufrechterhalten. Umfassendes Wissen zum Mitschreiben und Auswendiglernen. Bildung als Gedächtnisleistung. Noch heute sieht der Lehrplan an den „Grandes Ecoles“ keine einzige Stunde Pädagogik für Lehrerstudenten vor, noch heute brüten alle Abiturienten zwischen Guadeloupe und Brest am gleichen Tag über den gleichen, vom Pariser Erziehungsministerium gestellten Fragen.

Irgendjemand schrieb einmal, nach der Roten Armee sei die französische „Education Nationale“ die größte Zentralbürokratie der Welt. Die Rote Armee löst sich gerade auf. Frankreichs jakobinisches Schulsystem ist resistenter.

Was Wunder, wenn die Schüler die Nase voll haben. Nicht allein, daß die Schule ihre Rolle als nationale Sinnstifterin eingebüßt hat. Auch das Abitur ist längst nicht mehr Schlupfloch für Aufsteiger, sondern nurmehr illusionäres Ziel einer Generation, die in überfüllten und schlecht ausgestatteten Gymnasien zwischengeparkt wird, um den Arbeitsmarkt zu entlasten. Mit ihrer Bildungsoffensive versprach die regierende Sozialistische Partei, eine Pauker- und Karrieristenpartei, „das Abitur für 80 Prozent eines Jahrgangs“. Damit wurde das Lycée, eigentlich die Schule für die „Besseren“, lobenswerterweise demokratisiert, allerdings ohne daß sich an der pädagogischen Kommandoverwaltung etwas geändert hätte.

Einige zehntausend Schüler zogen gestern von der Bastille zu den Champs-Elysées. Vom Rand zum Reichtum. Eine Bewegung der Peripherie, der Provinz- und Banlieue-Schulen. (Noch) keine Bewegung für andere Inhalte, für Regionalisierung oder Selbstverwaltung. Noch fordert man Freifahrscheine nach Paris, statt dezentral zu demonstrieren. Die Slogans der Schüler sind so diffus wie ihre Zukunftsaussichten und so unübersichtlich wie die Gesellschaft, die in den letzten Jahren in die elitären Lycées eingedrungen ist. Wenn „mehr Sicherheit“ verlangt wird, dann deswegen, weil Delinquenz und Dealerei nicht mehr an der Schultür halt machen; wenn die Demonstanten „mehr Geld“ für Aufenthaltsräume wollen, dann weil Wohnungs- und Verkehrsmisere in der Banlieue ein Arbeiten zuhause unmöglich machen.

Durch die Öffnung der Lycées sind verschleppte Stadtprobleme zu Schulproblemen geworden. Vor einigen Wochen genügte eine Provokation der Polizei, um in Vaux-en-Velin die schwersten französischen Unruhen seit 20 Jahren auszulösen; kurz danach brachte die Vergewaltigung einer Schülerin die Schülerbewegung in Gang. Offenbar kann in einer immer komplexeren Gesellschaft, wo die alten Ordnungsmechanismen Kirche und Kommunismus noch nicht durch neue abgelöst sind, jeder Vorfall eine Kettenreaktion auslösen, die nicht mehr vom Ministersessel aus zu regulieren ist. Endlich scheint das 19. Jahrhundert mit seinen Schulweisheiten am Ende zu sein. Alexander Smoltczyk, Paris

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