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Die Russen wundern sich über ihr TeamAm Anfang stand der Skeptiker

In Russland hat es schon niemand mehr geglaubt. Aber dann haben auch ihre Landsleute erkannt, wie gut ihre Fußballer sind. Ein EM-Bericht aus St. Petersburg.

Noch ein Schluck zur Stärkung, dann können sie kommen, die Spanier. Bild: ap

Bild: privat

WITALI SEROW, 34, lebt in St. Petersburg und ist Anhänger des dortigen Erstligisten Zenit. Der Linguist und Übersetzer hat Sven Regeners Roman "Herr Lehmann" ins Russische übertragen. Die - auch in der taz - verbreitete englische Schreibweise russischer Spielernamen in deutschen Medien missfällt ihm außerordentlich.

Also, endlich ist der Tag gekommen, dass Deutsche Arschawin und Franzosen Archavine schreiben, einige von ihnen wenigstens. Vor einem Jahr konnten sie alle nur "Arshavin" vom Trikot oder aus dem Spielbericht kopieren. Jetzt hat unser inzwischen 27-jähriges Wunderkind in ganz Europa einen Namen.

Oh Gott, seufzte mancher Russe nach der Qualifikation, wir werden wieder einer Blamage zusehen dürfen, unsere Tolpatsche taugen ja nichts. Lohnt es sich überhaupt, zur EM zu fahren, um sich zu blamieren? Vielleicht sollte man lieber zu Hause bleiben?

Nach dem Uefa-Pokal-Gewinn von Zenit (diese Mannschaft tituliert man in Deutschland für uns unbegreiflicherweise immer Zenit St. Petersburg, dabei gibt es in der russischen Liga ja nur einen Zenit) haben die Skeptiker plötzlich festgestellt, dass im Petersburger Team acht Russen dabei sind und für die Nationalelf spielen können. Und Zenit hat schon so krass die Bayern mit 0:4 aus dem Uefa-Pokal weggefegt! Mal sehen, vielleicht haben wir doch eine kleine Chance.

Meine Frau Rita vor dem ersten Spiel gegen Spanien (1:4): "Willst du, dass ich in die Kneipe zum Fußball mitkomme? Oh Mann, wir werden sicher verlieren. Was?! Arschawin spielt nicht? Dann wird es ein Debakel." Und sie hatte wie immer Recht.

Gegen alte und verstockte Griechen haben die jungen Sporthelden aus Moskau und St. Petersburg es dann auch ohne Arschawin hingekriegt (1:0), und wir haben inzwischen bemerkt, dass die russischen Fans bei der EM die hässlichsten sind, und haben im Chor Buhrufe ausgestoßen, wenn sie auf dem Bildschirm zu sehen waren. Die meisten stolzierten mit ihren dicken behaarten Bäuchen herum, und die mit besonders roten und brutalen Gesichtern trugen T-Shirts mit der Aufschrift "Ich bin Russe". Als ob das nicht ohnehin klar gewesen wäre. Zum Glück sind die meisten russischen Spieler ganz nett.

Spiel gegen Schweden (2:0). Arschawin ist endlich dabei! Und mein Petersburger Herz pocht erst jetzt richtig für die russische Mannschaft. Und wir gewinnen leicht und schön. ICQ-Chat mit meiner Kollegin Sascha. Sie: "Wir haben gewonnen!!! Und dieser Pawlutschenko ist sooo süß!" - "Der spielt aber scheiße." - "Was?! Er hat ein Tor geschossen!" - "Stimmt, er hätte aber fünf machen müssen bei so vielen Chancen." - "Du sagst das nur, weil er für Spartak spielt!" Gewonnen ist gewonnen, aber soll ich jetzt einen Spartak-Mann loben?! Nie im Leben.

Gut, im Viertelfinale treffen wir auf Holland. Im Radio wird eine Umfrage durchgeführt: Was ist besser, mit schönem Spiel erhobenen Kopfes zu verlieren oder sich in der Verteidigung zu verstecken und wie die Griechen vor vier Jahren mühsam nach oben zu klettern?

Das Spiel gegen Holland (3:1), die Akteure stehen noch im Tunnel. Arschawin überrascht mit einer quasi Irokesenfrisur. "Ach, ist er aber blöd!", ruft die Nichte meiner Frau. "Habt ihr gesehen, er hat gerade in der Nase gebohrt?! Und das bei so ner Frisur! …" Der Typ ist aber Modedesigner und kennt sich in Frisuren aus, da ist er wieder Profi und wir nicht. Unglaublich, der verdiente Sieg hat mir nicht so super geschmeckt, weil die hochgelobten Holländer so farb- und ratlos ausgesehen haben.

Jörg aus Berlin in einer Petersburger Pizzeria: "Was mich verwundert hat, das war euer Kommentator." - "Aber der ist gut, ich höre seine Kommentare seit 20 Jahren." - "Aber er ist so parteiisch, der war offensichtlich für Russland!" - "Ist das bei den deutschen Kommentatoren nicht so?!" - "Nein, eben nicht." Na ja, wenn nicht, denn nicht.

Und natürlich meinen viele, dass Gazprom wieder alles gekauft hat, und das Tor von Nistelrooy und die Tränen nach dem Spiel sind nur Spektakel fürs gemeine Volk. Mal sehen, ob Gazprom auch Spanier zu kaufen vermag …

Meine Mutter (die sich noch nie für Fußball interessiert hat) am Telefon: "Und was glaubst du, wie wird es gegen Spanien? Werden unsere Jungs gewinnen?" - "Mutti, das weiß ich nicht. Aber ich will das."

WITALI SEROW

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