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■ Die Reden beim Staatsakt zum 8. Mai in BerlinAllseitiges Wohlwollen

Dies eine Mal hat sich erfreulicherweise nicht bestätigt, daß alles, was schief gehen könnte, auch prompt schief geht. Angesichts des diffizilen Gemütszustands der Deutschen gegenüber dem Komplex „Befreiung vom Nazismus“ war es nicht die schlechteste Idee, die Feierstunde zum 8. Mai im Schinkelschen Schauspielhaus stattfinden zu lassen. Selbst ein André Heller hätte vor der Aufgabe versagt, ein „nachdenkliches Volksfest“ auf den Straßen Berlins zu organisieren. Und es sah nicht danach aus, als ob die Berliner sich (wie die Franzosen am gleichen Tag in Paris) um ein öffentliches Spektakel betrogen gefühlt hätten.

Im Saale widerstanden die geladenen Redner – die Vertreter der Siegermächte ebenso wie Bundespräsident Roman Herzog – der Versuchung, aus dem Kontrast der Jahre 1945 und 1995 eine allzu selbstgefällige Bilanz zu destillieren. Allgemeines, wechselseitiges Wohlwollen konnte allerdings eine Kränkung nicht ungeschehen machen: Für den Vertreter Polens hatte sich weder ein Sitz- noch ein Stehplatz auftreiben lassen. So setzte sich nach 50 Jahren die Behandlung fort, die 1944/45 die alliierten Mächte Polen hatten angedeihen lassen.

Roman Herzogs Rede stand in der Kontinuität national-pädagogischer Exerzitien „von oben“, die wir uns seit Richard von Weizsäcker ganz gern gefallen lassen. Was er über den allmählichen Bewußtseinswandel der Westdeutschen nach 1945 und dessen Vorbedingungen zu sagen hatte, war klug, einfühlsam und realistisch. Auch die Emphase, mit der er dafür eintrat, die westeuropäische „Insel der Seligen“ um die ärmlichen Territorien des Ostens zu erweitern, war mehr als rhetorische Fingerübung. In der Tat: Wir schulden den Völkern Osteuropas noch einiges!

Aber die ganze Wahrheit war es eben doch nicht, die der Bundespräsident vor uns ausbreitete. Vierzig Jahre DDR kamen nur unter den Auspizien der demokratischen Revolution des Jahres 1989 vor. Dabei hätte gerade dieser Gedenktag Gelegenheit geboten, sich mit den antifaschistischen Traditionen im zweiten deutschen Staat auseinanderzusetzen – und zwar nicht nur mit den parteilich verordneten, der Legitimität des Regimes dienenden, sondern auch den genuin von den Menschen empfundenen. Ein weiteres, trauriges Mal bestätigte es sich, daß es stets die Ossis sind, die sich den westlichen Erfahrungen, den westlichen Lernprozessen anzubequemen haben.

Viktor Tschernomyrdins Ansprache kam wie vom alten, untergegangenen Sowjetstern. Nur terminologisch den veränderten politischen Bedingungen angepaßt, wiederholte die Rede gestanzte Formeln vergangener Jahrzehnte zum 9. Mai. Nicht der Hauch einer kritischen Reflexion über Stalins Zerstörungswerk, die Vergewaltigung der Völker Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg, über die „parallelen Leben“ der beiden großen Tyrannen dieses Jahrhunderts. Dafür aber die unvermittelte Forderung nach einem „blockfreien“, europäischen, kollektiven Sicherheitssystem, und dies, ohne auf die naheliegenden Bedrohungsängste der Ostmitteleuropäer und Balten einzugehen.

John Major hatte, fernab der Londoner Tory-Dämmerung, endlich mal Gelegenheit, ein lichtes Bild Europas im kommenden „zweiten Zeitalter der Vernunft“ zu malen. Europa, so Major, sei kein ökonomischer oder politischer Begriff, sondern ein normativer Maßstab. Wenn wir die europäischen Werte hochhalten, kann auf die dunkle Zeit totalitärer Herrschaft eine Epoche der Aufklärung folgen, wie es nach den Religionskriegen und dem Dreißigjährigen Krieg schon einmal geschah.

Ähnlich optimistisch äußerte sich Al Gore. In kurzer, konziser Rede kontrastierte er Amerikas Isolationismus nach 1918 dem europäischen Engagement der USA nach 1945. Georg Marshall und sein Plan wurde als geschichtliche Wasserscheide gefeiert. „Ike“ Eisenhowers Ausspruch von 1945, wonach der Erfolg der Alliierten sich daran bemesse, ob Deutschland in fünfzig Jahren eine stabile Demokratie sein werde. „Ich melde, Mission erfüllt!“ rief der Zivilist Gore dem General in seinem Soldatenhimmel zu.

Aber zuletzt gehörte der Abend doch François Mitterrand. Von den führenden anwesenden Staatsleuten war er der einzige, der den Zweiten Weltkrieg noch als Soldat miterlebt hatte – die Niederlage von 1940, die Gefangenschaft in Deutschland, den schließlichen Triumph. Mitterrand sprach frei, wandte sich unmittelbar dem Publikum zu – und er sprach über sich selbst, seine Erfahrungen mit den Deutschen in der Zeit des Krieges. Wie er seine Bewacher als „honêttes hommes“ erlebt und daraus Hoffnung geschöpft habe, daß es nicht der Haß sein werde, der das Verhältnis der „Erbfeinde“ Deutschland und Frankreich in Zukunft bestimme.

Nach der bedingungslosen Kapitulation hätten die Alliierten es in der Hand gehabt, Versailles zu wiederholen, das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Aber die großen westlichen Politiker der Nachkriegszeit hätten sich nicht für die schlechte Kontinuität entschieden, sondern, in einem beispiellosen Akt historischer Einsicht, für den Bruch mit ihr und für die europäische Idee. Sie alle, auch die Generation künftiger Politiker, stünden in der Schuld der Gründer, lebten von dem Augenblick, „in dem Europa sich selbst besiegte und damit zu sich fand“.

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