: Die Realität der Illusionen
Über die Musik des Komponisten, Bassisten und Stückeschreibers Sirone, der zur Zeit in Berlin lebt ■ Von Claus Emrich
Ein drahtvergittertes Fenster. An der Wand ist ein Basketballkorb angebracht. In der Ecke lehnt eine Leiter. Eine in einen zerschlissenen Mantel gehüllte Frau sitzt auf dem Boden, neben sich eine große Plastiktasche. Darin ihre wenigen Habseligkeiten. Ein ebenfalls abgerissen aussehender Mann nähert sich schlurfend. Er schleppt mühsam einen Baß mit sich. Die Frau beginnt zu sprechen, der Mann antwortet. Aus dem Gespräch wird schnell ein Streit darüber, wer an dieser Ecke bleiben darf. Der Mann beharrt darauf, daß dies sein Territorium sei: Er müsse hier arbeiten. Und er greift seinen Baß. Die Frau: Hier sei Platz für alle. Hier sei Amerika.
Es sind keine wirklichen Stadtstreicher, und es ist keine Straße in einem amerikanischen Elendsviertel, wo die beiden sich begegnen. Es ist die Realität der Bühne, zu der für einen Vormittag eine Kreuzberger Schulturnhalle gemacht wurde. Dargestellt wird eine Szene aus dem Stück Street Life, das von der Schauspielerin Veronika Nowag-Jones und dem Bassisten Sirone gemeinsam geschrieben wurde.
Die beiden leben seit kurzem in Kreuzberg SO 36 und spielen hier die Eingangsszene ihres Stücks vor zehnjährigen Kids, um ihnen den Jazz hörbar, sichtbar, fühlbar zu machen. Dies gelingt ihnen, indem sie das Aufeinandertreffen der beiden in ihrer kulturellen und ethnischen Herkunft so unterschiedlichen „Outcasts“ spielen: Am Ende der Szene haben die Spieler und die Kids den Blues.
Mit Musikern aus der Berliner Jazzszene realisierten Sirone und Veronika das Stück 1989 im Hebbel- Theater. Ein Jahr später war die Gruppe damit in Wien, wo George Tabori sie hörte. Dies war der Beginn einer Zusammenarbeit zwischen Tabori und Sirone/Veronika: In diesen Tagen ist Sirone in Wien, um mit Tabori ein experimentelles Stück zu erarbeiten, das am 8. April im Burgtheater Premiere haben soll. Die Art und die Umstände der Vorbereitung nennt Sirone „Jazz“ und lacht. Als er nach Wien fährt (mit Baß, Posaune und Flöte, aber ohne Geld), weiß er nur, daß in diesem Stück „joy, love, happiness — all the good things of life“ geschehen sollen und daß es aus unterschiedlichen Musikformen entstehen soll: Balladen, Standards, auch Lyrik. Gerade die Ungewißheit macht für ihn die Herausforderung aus (und das verbindet ihn wohl auch mit George Tabori). „Bewegliche Einheit — Jeder spielt sein Bestes aus zum gemeinsamen Thema. Das ist die Musik der Zukunft: Jeder ist ein Schöpfer. Du hast das Recht, du zu sein, und ich bin ich“, schrieb Volker Braun einmal in einem Gedicht, das er Jazz nannte. Ich bin sicher, das neue Stück wird gelingen.
Dieses Verständnis von Jazz als einer umfassenden Lebens- und Arbeitsweise wird in einer Aussage des Saxophonisten Charles Gayle noch deutlicher: „All meine Musik ist gänzlich spontan. Ich plane nichts und gebe den Musikern nichts vor. Wenn ich spiele, will ich Mauern durchbrechen“, sagte er zur Produktion seiner LP Always Born, die er mit John Tchicai am Saxophon, dem Trommler Reggie Nicholson und Sirone am Baß 1988 aufnahm. Durch dieses Herangehen entstand eine Musik, die in ihrer Intensität und Dichte an die besten Sessions von Albert Ayler erinnert.
To make the bass a character
Ein anderes Vorhaben, in dem Text und Musik sich verbinden, zeigt die Vielfalt in Sirones Arbeit. Mit dem Schauspieler Wilfried Richer entsteht zur Zeit eine Interpretation des Michael Kohlhaas. Schwierigkeiten bereitete Sirone zunächst das Textverständnis. Eine englische Fassung war nicht aufzufinden. Das Notwendige über Inhalt und Charaktere der Novelle erfuhr er dann während eines kurzen Aufenthalts in New York von Maria Ley Piscator, die mit Erwin Piscator in dessen Emigrationsjahren in den USA zusammenlebte: Sie hatte in den sechziger Jahren ein Stück über Kohlhaas geschrieben, das sich auf Kleist bezog. Von daher konnte Sirone sich den Stoff aneignen.
In die von Wilfried Richer ausgewählte und um eigene Texte ergänzte Kleistsche Prosa will Sirone mit seiner Musik eine andere Ausdrucksebene einführen. Oder, wie er sagt: „Die verbale Sprache wird interpretiert durch die musikalische Sprache.“ Beide Ebenen sind dabei gleichwertig. Der Baß erhält so eine bisher nicht gekannte Eigenständigkeit. „To make the bass a character“, sagt Sirone. Diese Auffassung ist bei ihm schon früher angelegt. Ein Stück auf der LP Original Phalanx nennt er Angel Love und meint damit sein Instrument. Auch in Street Life ist Angel „Mitspielerin“.
„Songs, die sich mit dem Glanz und Elend, den Illusionen und Wirklichkeiten der großen, homerischen Klischees abgaben wie Liebe, Stolz, Ehre, Rache und Trug, die aber manchmal trotzdem Millionen dazu brachten, einen originellen, eigenen Gedanken zu denken, einen extravaganten Traum zu träumen oder hochzuschrecken, weil der unerklärliche Schmerz der Erinnerung in ihnen lebendig wurde“, schrieb John Clellon Holmes in seinem Roman Der Saxophonist (der das Leben von Charlie Parker zum Vorbild hat) über den Inhalt der Musik der schwarzen Amerikaner.
Es ist sicher ein Zufall, aber Holmes verwendet hier zwei Begriffe, die auch für Sirone und seine (Musik-)Auffassungen wichtig sind: Illusion und Wirklichkeit/Realität (eingeschlossen ihr Verhältnis zueinander). Illusions of Reality ist eine Komposition Sirones, die er 1978 und 1987 jeweils mit unterschiedlichen Gruppen und unterschiedlicher Instrumentierung aufnahm. „Als ich Illusions of Reality schrieb, dachte ich darüber nach: was ist Wirklichkeit, was ist Schein? Zwischen beiden Begriffen besteht ein Gegensatz, aber auch hier gibt es einen Punkt, der diesen Gegensatz aufhebt. Oder anders: Ich suche nach den Gegensätzen in den Dingen, um die Dinge und ihre Widersprüchlichkeit besser verstehen zu können. Dabei erkenne ich, daß die Gegensätze sich eher ergänzen als widersprechen. So ist es auch mit Illusions of Reality. Ich glaube, daß alles, was existiert, Schein ist. Was jetzt Wirklichkeit ist, ist morgen Schein. Die Essenz all dessen ist also der Wandel der Realität“, sagte Sirone 1989 in einem Gespräch mit der Zeitschrift 'Konsequent‘.
„Circumstances“: Die soziale Realität in der Musik
In diesen Zusammenhang gehört auch ein Stück wie The Journey. Das poetische Bild der Reise steht nicht nur abstrakt für Veränderung. Es enthält — in der Jazztradition — zugleich eine historische Dimension. The Voyage des Trompeters Hannibal Marvin Peterson etwa meint die Überfahrt der Sklavenschiffe von Afrika nach Amerika und erinnert damit an die kollektive Geschichte der schwarzen Amerikaner. Sirones The Journey kann auch in dieser Lesart begriffen werden.
Der Bezug zur sozialen Realität ist in den Stücken Sirones immer vorhanden. Eine seiner Kompositionen nannte er circumstances, die historischen und gesellschaftlichen „Zusammenhänge“ sind nach seiner eigenen Aussage Teil der Musik. Gleichzeitig ist damit die Beschränktheit der musikalischen Form angesprochen, die komplexe soziale Inhalte nicht mehr organisieren kann, was Sirone in dem genannten 'Konsequent‘-Gespräch bestätigt. Von daher sind andere oder ergänzende Formen verlangt, wie er sie nun in seinen (Theater-)Stücken gefunden hat.
Zu den circumstances gehört natürlich der eigene Lebensweg. Sirone, 1940 in den Südstaaten der USA geboren, kam 1965/66 nach New York und spielte mit John Coltrane, Ornette Coleman, Albert Ayler, Dewey Redman, Archie Shepp. Mit dem Pianisten Cecil Taylor arbeitete er über mehrere Jahre zusammen. Er formierte 1972 mit dem Geiger Leroy Jenkins und dem Perkussionisten Jerome Cooper das „Revolutionary Ensemble“, eine der herausragenden Gruppen der damaligen neuen Entwicklung im Jazz, die sich vor dem Hintergrund der aufbrechenden ethnischen und sozialen Gegensätze in den USA und dem Krieg gegen das vietnamesische Volk herausgebildet hatte.
Dabei waren die Neuerungen des „Revolutionary Ensemble“ nicht auf die Form beschränkt. Die Revolutionierung des musikalischen Materials war gebunden an die inhaltlichen Aussagen der Gruppe. Vielleicht ist dies der Grund dafür, daß das „Revolutionary Ensemble“, das immerhin fünf LPs veröffentlichte, zwar von Insidern hochgeschätzt wurde, im Gegensatz dazu die Gruppe kaum Möglichkeiten erhielt, ihre Musik auch in Auftritten zu realisieren. Stücke wie Vietnam (gleichzeitig die erste LP der Gruppe; heute vergriffen) oder The People's Republic waren eindeutig parteiliche Stücke. Sie beschrieben nicht nur mit musikalischen Mitteln das Bestehende, sondern enthielten zugleich die Utopie einer befreiten Gesellschaft: die Republik des Volkes und/oder der Völker. Dazu Sirone 1989:
„Alle Völker, die abhängig und unterdrückt sind, alle Völker, die für ihre Befreiung kämpfen. Das ist die Republik, für die ich einstehe. Das ist meine Heimat und mein Traum: die Republik der Völker. Nicht ein bestimmtes Volk mit einer bestimmten Hautfarbe, sondern die Menschen. Menschen/Völker, die aufgehört haben, bloß überleben zu wollen, und statt dessen sagen: ich will leben. Es besteht ein Unterschied zwischen überleben und leben. Ich hoffe, wer die Musik hört, fühlt, erfährt etwas von der Vorstellung und dem Bild, die ich mit der People's Republic verbinde.“
Archie Shepp: „Unsere Rache wird schwarz sein, wie unsere Leiden schwarz sind“
Solche Stücke des „Revolutionary Ensemble“ stehen in der Geschichte des Jazz nicht isoliert. Es gibt eine interessante Aussage Archie Shepps im 'down beat‘ vom 16.12.1965, wo er sagt: „Unsere Rache wird schwarz sein, so wie unsere Leiden schwarz sind; wie Fidel schwarz ist, wie Ho Chi Minh schwarz ist. Ich bin ein Gelber, und sie sind schwarz wie ich oder auch weiß.“ Und es gibt das Pendant: Artikel von Ho Chi Minh, die in den zwanziger Jahren in der Komintern-Zeitschrift 'Internationale Pressekorrespondenz‘ und der gewerkschaftlichen 'La Vie Ouvrière‘ erschienen sind, in denen die Lage der Schwarzen in den USA wie auch in den kolonisierten Ländern Afrikas dargestellt ist.
Daß der RIAS am 19.10.1990 ein Porträt Sirones ausstrahlte, zeigt die dortige Wertschätzung guter Musik und ihrer Produzenten. Daß dabei der „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ eine Spontankomposition Sirones — Ho Chi Minh — brachte, war eine verspätete Erinnerung an diesen Revolutionär und Internationalisten, der am 19. Mai 1990 hundert Jahre alt geworden wäre. Hier wurde tatsächlich eine Illusion zur Wirklichkeit. Das Stück, das an die Anfänge des „Revolutionary Ensemble“ anknüpft, widmete Sirone ausdrücklich Ho Chi Minh und dem Volk in Vietnam. Er hat das Thema im nachhinein notiert, es ist hier als Faksimile wiedergegeben.
Auch diese Hommage ist keine Ausnahme innerhalb der Great Black Music. 1979 schrieb der Schlagzeuger Max Roach im Auftrag der italienischen KP aus Anlaß des Todes von Mao Tse-tung sein Werk The Long March, das jetzt in einer beim Jazz- Festival Willisau '79 gemachten Aufnahme erneut veröffentlicht wurde.
Im Sommer 1990 kam es während des „Konfrontationen“-Festivals in Nickelsdorf schließlich zur Reunion des „Revolutionary Ensemble“. Davor war bereits während der Berliner „Jazz in the Garden“-Reihe ein Zusammenspiel von Sirone und Leroy Jenkins geplant, das jedoch nicht zustande kam. In Nickelsdorf wurde dann ein erneuter Anfang gemacht. Wie Sirone erzählt, wird diese Zusammenarbeit weitergehen. Ende September will die Gruppe für drei Wochen in Europa auf Tour gehen. (Deshalb hier der Hinweis an die Organisatoren des „Jazz Fests Berlin“: Ein Konzert des „Revolutionary Ensemble“ würde für den ausgefallenen Auftritt bei „Jazz in the Garden“ mehr als entschädigen.)
„Das Theater endet, wenn das Konzert beginnt. Die Musik heißt JAZZ“
Es ist fünfzehn Jahre her, daß Sirone für das „Revolutionary Ensemble“ sein Stück The People's Republic geschrieben hat. Diese Republik soll jetzt auf die Bühne gebracht werden: Four packs — same price ist der Arbeitstitel für ein „Musiktheater ... Theatermusik“, in dem die „Einheit der Kunstformen“ (wieder)hergestellt werden soll, wie Sirone sagt. „Die Kunstformen zusammenbringen, heißt auch die Individuen zusammenbringen. Dadurch werden Beziehungen etabliert.“ Aus den USA, aus Japan, der UdSSR und den (ehemals) beiden deutschen Staaten kommen die Künstler, die unter der Regie von Klaus Emmerich demnächst das Stück erarbeiten wollen, das 1992 zuerst in Japan aufgeführt werden und von dort in andere Länder gebracht werden soll. Die Beziehung verschiedener Kulturen zueinander ist sein Gegenstand, sein Medium der Jazz. Dabei muß zunächst die gegenseitige Fremdheit der Kulturen überwunden werden. Im Stück arbeitet daran ein Kabuki. Dieser (von Veronika Nowag dargestellt), „von einem europäischen Betrachter für einen japanischen Kabuki-Tänzer gehalten, von einem Japaner für einen europäischen Clown“, ist bereits keiner nationalen Kultur mehr eindeutig zuzuordnen. Ihm gelingt es durch „vermitteln tadeln drohen begeistern animieren manipulieren attackieren dominieren resignieren hypnotisieren forcieren“, die Musiker eine gemeinsame Sprache, die nicht mehr ihre alte ist, finden zu lassen. „Er verzaubert schließlich die Musiker. Das Theater endet, wenn das Konzert beginnt. Die Musik heißt JAZZ.“ So im Exposé.
Es wäre gut, wenn die Illusionen Sirones — die nicht nur seine sind — Realität würden: sie müssen es.
Discographie (Auswahl):
Vom „Revolutionary Ensemble“ ist gegenwärtig leider nur die bei „enja“ erschienene LP 164=11tc im Handel erhältlich.
Sirone selbst veröffentlichte bisher zwei LPs: 1978 artistry (mit James Newton, flute; Muneer Bernard Fennell, cello; Don Moye, percussion) und 1981 Live (mit Dennis Charles, drums; Claude Lawrence, alto sax; Sirone spielt hier neben dem Baß noch Posaune und [Holz-]Flöte). Erschienen bei „Serious Music“.
Die Gruppe „Phalanx“ (George Adams, sax; James Blood Ulmer, guitar; Rashied Ali, drums; Sirone, bass) spielte zwei LPs ein: 1987 Original Phalanx und 1988 In Touch. Beide erschienen bei „DIW-records“.
Zusammen mit Cecil Taylor gibt es mehrere noch erhältliche Einspielungen. So One too many salty swift and not goodbye mit Jimmy Lyons (alto sax), Raphé Malik (trumpet), Ramsey Ameen (violin), Ronald Shannon Jackson (drums) und Sirone (bass), um nur eine zu nennen. Erschienen bei „Hat Hut Records“.
Mit Charles Gayle hat Sirone bisher zwei veröffentlichte LPs (bei „silkheart“) aufgenommen: Always Born und im Trio Homeless.
Eine LP des Saxophonisten George Adams (mit Sirone, bass; Hugh Lawson, piano; Victor Lewis, drums) ist 1989 bei „blue note“ unter dem Titel nightingale erschienen. Sie enthält vor allem traditionelle Gospel- und Spiritualstücke.
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