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Die Politisierung zeigt erste Erfolge

■ Mit seinem Wahlsieg in Moskau wurde Boris Jelzin zum neuen Star der radikalen Perestroika-Bewegung

Gorbatschow warf ihn einst aus dem Politbüro, doch dem Parteiestablishment ist es nicht gelungen, Boris Jelzin abzudrängen, dem die Perestroika viel zu langsam geht. Am Sonntag wurde Jelzin - trotz aller Manipulationsversuche seiner Gegner mit überwältigender Mehrheit ins neue Parlament gewählt.

Verraten wollte er nicht, für welchen Kandidaten er in seinem Wahlkreis gestimmt hatte. Als Michail Gorbatschow sich nach der Stimmabgabe den Fragen der Journalisten stellte, ließ er keinen Zweifel daran, daß er das Experiment der Wahlen zum Obersten Sowjet der Sowjetunion insgesamt für gelungen hält.

Doch der Parteichef ließ auch durchklingen, daß das jetzt praktizierte Wahlsystem noch nicht das letzte Wort ist. Nicht nur in Moskau wurde nämlich deutlich, daß die Vorauswahl der KandidatInnen durch Wahlkommissionen der Manipulation durch den Parteiapparat Tür und Tor öffnete. Mittels dieser Kommissionen ist es dem konservativen Flügel des Apparats gelungen, so manchen Perestroikaanhänger stolpern zu lassen.

Dennoch bestreitet kaum jemand in der Sowjetunion heute die immense Bedeutung der Wahl für die Politisierung der Bevölkerung. Schlagendstes Beispiel ist die Welle der Solidarisierung mit Boris Jelzin, die sich weit über Moskau hinaus entwickelt hatte, als er in den letzten Wochen immer wieder vom konser vativen Parteiestablishment angegriffen wurde und das Politbüro sogar eine Kommission einberief, die ein Parteiordnungsverfahren gegen ihn einleiten sollte. Als Antwort darauf schlossen sich informelle Gruppen, deren Mitglieder sich vorher kaum eines Blickes gewürdigt hatten, in einem Komitee zur Verteidigung Jelzins zusammen.

Mit dem Diskussionsprozeß um die Auswahl der KandidatInnen ist in weiten Landesteilen eine Atmosphäre entstanden, die lange Verdrängtes an die Oberfläche brachte. Vor allem in den nichtrussischen Republiken, in Armenien, Weißrußland, der Ukraine, den baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland hat der Wahlkampf um die Plätze im Obersten Sowjet die politischen Emotionen hochschwappen lassen. Die regionalen Wirtschafts- und Ökologieprobleme, die Nationalitätenkonflikte konnten in vorher nie gekannter Weise öffentlich diskutiert werden, die einzelnen Kandidaten wurden an ihrer Haltung zu diesen gesellschaftlichen Konfliktpunkten gemessen.

Gerade auch die Ungereimtheiten des Wahlsystems trugen entscheidend zur Politisierung bei. Die neuen sozialen Bewegungen mischten sich ein und profitierten von der Diskussion: die Volksfronten (in den baltischen Ländern), die grünen Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und nationalistischen Bewegungen konnten ihre politischen Intentionen einer großen Öffentlichkeit deutlich machen.

Aber auch dies: Insbesondere den auf nationale Selbstbestimmung zielenden Bewegungen wurden ihre Grenzen gezeigt. Gerade in Armenien war dies eine bittere Pille. 3.000 Menschen demonstrierten am Sonntag trotz des Versammlungsverbots in der armenischen Hauptstadt Eriwan gegen die Wahl und riefen zum Boykott auf, weil bei der KandidatInnenauswahl und im Wahlkampf auf die demokratisch -nationale Bewegung Druck ausgeübt worden war. Noch immer sitzen elf Mitglieder des Karabach-Komitees, das den Anschluß der Enklave Berg-Karabach an Armenien fordert, in Haft. Polizei und Soldaten, die seit der Verhängung der nächtlichen Ausgangssperre vor vier Monaten in der Stadt stationiert sind, trieben die DemonstrantInnen auseinander. Dennoch sind diese Proteste nicht aussichtslos. Falls die Wahlbeteiligung unter 50 Prozent bleibt, muß die Wahl nämlich wiederholt werden, heißt es in den Wahlgesetzen.

In Litauen dagegen herrscht Euphorie. Praktisch alle Kandidaten der litauischen Volksfront „Sajudis“ seien gewählt worden, ist aus ihrem Büro in Wilna zu hören. In 31 der 42 Wahlkreise liege die Organisation an der Spitze. Weder Ministerpräsident Vyautis Sakalauskas noch Parlamentspräsident Vyautas Astrauskas würden in das künftig höchste sowjetische Parlament einziehen. Dagegen hatte sich die Volksfront hinter Parteichef Algirdas Brauzauskas und seinen Stellvertreter Wladimir Beresow gestellt. Beide gelten als progressiv. Der Erfolg: Radio Wilna meldete 80 Prozent für beide Kandidaten.

Auch in Lettland muß das konservative Parteiestablishment zittern. Denn auch hier kann die Volksfront mit großer Zustimmung der lettischen Bevölkerung rechnen. Selbst der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Janis Vagris, der den Reformern zugerechnet wird, lag nach Auszählung eines Teils der abgegebenen Stimmen knapp hinter seinem Gegenkandidaten Juri Dobelis, einem Mitglied der „Bewegung für die Unabhängigkeit“ des Landes. Und die gilt im politischen Spektrum als radikal. Die Stimmung in der Bevölkerung kam auch am Samstag zum Ausdruck. Über 50.000 Menschen gedachten im Zentrum von Riga mit einem Schweigemarsch der Deportation von 40.000 LettInnen am 25. März 1949. Die Parteiführung, die noch Tage zuvor mit einem Versammlungsverbot geliebäugelt hatte, mußte die Veranstaltung ohne Behinderungen zulassen.

In Minsk, der Hauptstadt der weißrussischen Teilrepublik, protestierten, ebenfalls am Samstag, 25.000 Menschen gegen die Kandidatur des Minsker Parteisekretärs zum Kongreß der Volksdeputierten, zu der die erst kürzlich formierte Volksfront aufgerufen hatte.

Erich Rathfelder, Riga

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