: Die Nacht der Einzelnen
■ Menschen jenseits aller Möglichkeit zum Mitgefühl: Anton Tschechows selten gespielter, bitterer Einakter Auf der großen Straße im TiK
Die Terminierung ist perfekt, denn die Atmosphäre von Anton Tschechows nicht eben häufig gespieltem Einakter Auf der großen Straße paßt in die gedehnte Winterzeit wie ein erkalteter Kachelofen.
Vor einem Unwetter rettet sich da eine Dame in eine finstere Kaschemme am Rand der titelgebenden Landstraße und findet ein Sammelsurium der Abgestürzten, eine Riege Gestrandeter vor. Zwischen ihnen: ein ruinierter Adeliger, Borzow, der seinen Besitz versoffen hat, als seine immer noch geliebte Verlobte ihn am Tag der Hochzeit sitzen ließ. Nun ist er so arm wie die anderen hier auch, nur fast noch tragischer, und immer noch verliebt in die Abtrünnige. Der böse Zufall dramatischer Zuspitzung will es, daß die hereingeschneite Dame eben jene Verlobte ist. Da hört die dramatische Zuspitzung allerdings auch schon fast wieder auf: Der Trinkkumpan, der in einem Anfall männlicher Solidarität zur Axt greift, um die „Untreue“ schlicht zu enthaupten, wird von den Umstehenden entwaffnet, der ganz untschechowsche Anfall dramatischer Aktion schon im Anflug beendet.
„Verbieten!“ lautete das Verdikt des Zensors im September 1885, der die Düsterkeit monierte, das Negative des Stückes, das in seiner wirklich schroffen Darstellung mitleidsloser Zustände sicher das extremste Stück des sonst doch eher sanften Operateurs bürgerlicher Seelen ist.
„Dieses Stück nun zu machen“, meint Dramaturg Klaus Mießbach, „hat sehr gut ins Haus gepaßt. Die Idee dazu kam aber trotzdem vom Regisseur.“ Dimiter Gotscheff, der im Thalia Jahnns Straßenecke inszeniert hat, ist ein Tschechow-Liebhaber. Das Glück verschaffte ihm nun die Möglichkeit einer Traumbesetzung: „Natürlich wünscht jeder Regisseur sich bestimmte Leute, die er aus Arbeitserfahrungen kennt, oder weil er unbedingt einmal mit ihnen arbeiten will“, erklärt Mießbach. „Da aber jedes Haus unterschiedliche Produktionen parallel besetzt, muß man versuchen, das in Einklang zu bringen. Nun hatten wir hier plötzlich all die Leute, die für dieses Stück nötig waren, und oft auch genau die, die Gotscheff sich gewünscht hatte.“
Doch nicht nur die Verwirklichung von Gotscheffs Traumbesetzung – mit Samuel Fintzi als Borzow, Josef Bilous, Hannes Hellmann, Dietmar König, Lothar Rehfeld, Cornelia Schirmer, Nicki von Tempelhoff und Victoria Trauttmansdorff – sprach für diese Inszenierung. Auch die besondere Farbe des Stoffes, die absticht von den eher versunkenen Seelendramen der größeren Tschechow-Stücke, die im großen Haus in den letzten Jahren gemacht wurden. Und die Form, die Regisseur Gotscheff dem rohen Stoff geben wird: „Gotscheff“, so sein Dramaturg, „hat ein ganz anderes Vorgehen als Jürgen Flimm, der doch eher von der Psychologie her kommt. Gotscheff versucht, die Sprache in die Körper zu bekommen und definiert die Figuren doch deutlich stärker über ihren Gestus.“ Thomas Plaichinger
Premiere: 16. März , 20 Uhr, TiK
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