piwik no script img

„Die Menschen essen Kräuter und Gräser“

■ Seit 124 Tagen wird das Palästinenserlager Raschediyeh im Südlibanon von Milizionären der schiitischen Amal belagert Hunger und militärischer Druck bringen die Bevölkerung in ausweglose Lage / Augenzeugenbericht eines Sheikhs

Aus Beirut Joseph Katz

Das Palästinenserlager Raschediyeh im Südlibanon stirbt. Der Hunger nagt am Leben der 17.000 Camp–Bewohner, Artilleriebombardements fordern zusätzliches Blutvergießen. Sheikh Maharram Aarfeh, ein Führer der islamischen Front, in der die sunnitische und schiitische Ulema vereinigt sind, verbrachte 39 Tage im Raschediyeh. Der Sheikh berichtet von sechs Säuglingen, die starben, weil es kein Milchpulver mehr im Camp gibt. Seit nunmehr 124 Tagen wird das Lager von den Milizionären der Schiitenbewegung Amal belagert. Sheikh Moharram Aarfeh war Mitte Dezember 86 zusammen mit einem religiösen Gesandten aus Teheran, Sheikh Issa Tabatabai, nach Raschediyeh gegangen, um einen Waffenstillstand und die sofortige Aufhebung der Blockade im Lagerkrieg zwischen Amal und den Palästinensern auszuhandeln. „Es gibt kein Salz mehr“, berichtet Sheikh Aarfeh. „Es gibt überhaupt nichts mehr. Die Menschen essen Kräuter und Gräser, alles was wächst, Korianderwurzeln, Zwiebeln, Orangen. Wo auch immer man hinsieht, herrscht der Hunger. Einmal kam ein siebenjähriges Kind zu mir und verlangte ein Stück Brot. Es habe so schrecklich lange kein Brot mehr gegessen, sagte das Kind. Ich konnte nichts tun, ich dachte, es bricht mir das Herz.“ Der ca. 30jährige Sheikh Aarfeh, der während der israelischen Besatzung des Südlibanons (1982–85) 17 Monate im Internierungslager Ansar und später im israelischen Gefängnis von Atlit zubrachte, mußte das Palästinenserlager verlassen, als seine Mutter starb. Er ist einer der wenigen, die mit eigenen Augen gesehen haben, was im Raschediyeh vor sich geht, denn niemand kann das Lager erreichen oder verlassen, Journalisten ist der Zutritt strengstens untersagt. Die iranische Vermittlungsdelegation habe den Bewohnern verboten, am Lagerrand nach eßbaren Pflanzen zu suchen, berichtet er, Dutzende von Palästinensern seien durch Scharfschützen getötet worden, für eine Handvoll Radieschen oder Petersilie. „Die Leute sterben lieber durch eine Kugel als in der hilflosen Ohn macht des Hungers.“ Zum Hunger kommt der militärische Druck. „Zu jeder Tages– oder Nachtzeit fallen die Bomben auf das Lager“, erklärt der Sheikh. Während seines Aufenthalts im Raschediyeh seien 22 Menschen gestorben, 50 weitere verletzt und mehrere Menschen verschleppt worden, als sie auf der Suche nach Kräutern und Früchten an den Rand des Lagers gingen. „Auch bevor wir nach Raschediyeh gingen, wurden Raketen auf das Lager geschossen, die ganze Häuser völlig zerstörten. Raketen, deren Einsatz gegen die Zivilbevölkerung von allen internationalen Konventionen gebannt wird. Die Kinder von Raschediyeh sind keine Kinder mehr, sie bauen Barrikaden und beschießen sich mit Granaten aus Sand“, erzählt der Sheikh. Nach einem religiösen Appell (Fatwa) der schiitischen Milizionäre seien eine ganze Reihe der Amal–Kämpfer desertiert. „Natürlich sind gerade die Unbarmherzigsten geblieben und schießen auf jeden.“ Nur zwei Ärzte versorgen die 17.000 Bewohner. Ein Krankenhaus gibt es nicht. Denn als die Bewohner nach der israelischen Invasion und der Zerstörung des Lagers auch ein Feldlazarett aufbauen wollten, haben die Verantwortlichen von Amal das verbo ten. Die Wiedereinrichtung einer medizinischen Infrastruktur sei eine „militärische Angelegenheit“, hieß es zur Begründung. „Die meisten Kranken und Verletzten in Raschediyeh sterben nach wenigen Tagen“, berichtet Sheikh Aarfeh, „denn es gibt keine Medikamente, mit denen ihnen geholfen werden kann.“ Aus Sicherheitsgründen haben die beiden Sheiks den Bewohnern Raschediyehs untersagt, sich zum gemeinsamen Freitagsgebet zu versammeln. Die Moschee des Lagers ist ohnehin von einer Rakete zerstört worden. Auch ihrem Rat, nicht zurückzuschießen, wird weitgehend gefolgt. Sheikh Aarfeh berichtet von einem, der seine drei jüngeren Brüder tot und vier Schwestern verwundet unter den Trümmern ihres Hauses fand. „Gerade als er im blinden Schmerz losrennen und zusammen mit einem Kameraden eine Artilleriestellung von Amal stürmen wollte, habe ich ihn getroffen. Ich habe ihm einige Suren aus dem Koran vorgelesen, habe mit ihm geredet und ihn schließlich überredet, zu bleiben“, erinnert sich der Sheikh. „Jetzt, wo alles noch einmal lebendig wird, beim Erzählen, überkommen mich Zweifel und Unsicherheit. Ich konnte nur 39 Tage in Raschediyeh bleiben. Es ist fast unmöglich sich vorzustellen, was die Palästinenser in diesen Tagen durchmachen. Diese Belagerung ist schlimmer als die von Kerbala“, zitiert der Sheikh seinen Kollegen Issa Tabatabai. In Kerbala kam Imam Hussein ums Leben, der Schwiegersohn des Propheten Mohammed, den die Schiiten über alles verehren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen