Die Mauer vom Osten aus gesehen: Irgendetwas musste damals passieren
Die Mauer war weder Zufall noch Irrtum. Für die Kommunisten war sie ein Überlebensbauwerk. Sie führte dazu, dass Westberlin im Osten verklärt wurde.
Gegenwärtig können wir tagtäglich erleben, wie der 50. Jahrestag des Mauerbaus 1961 erinnert wird: Ausstellungen, Radiofeatures, Fernsehdokumentationen und -spielfilme, zahllose Zeitungsberichte, Broschüren und nicht zuletzt neue dicke Bücher beleuchten den Mauerbau.
Wir wissen jetzt noch genauer, wann der sowjetische Parteichef Chruschtschow baden ging, wann sein Ostberliner Statthalter Walter Ulbricht seine Mahlzeiten einnahm, welche Obstsorten US-Präsident John F. Kennedy zum Nachtisch bevorzugte, wann der Regierende Bürgermeister Willy Brandt Nachtruhe hielt. Unser Wissen ist gewaltig. Es mehrt und mehrt sich, aber Neues kam auf eine geradezu eigentümliche Weise nicht hinzu.
Noch merkwürdiger freilich schien, dass über die Ursachen, die zum Mauerbau führten, damals wie heute ebenso nur am Rande geredet wird wie über die Folgen. Natürlich, die Massenflucht wurde erwähnt, auch dass im Sommer 1961 tagtäglich zwischen 1.000 und 2.000 Menschen nach Westberlin flohen. Aber warum eigentlich? Und warum mussten die Kommunisten in Ostberlin und Moskau eigentlich handeln? Nicht nur, weil die DDR kurz vor dem Zusammenbruch stand, sondern auch weil ähnlich wie im Juni 1953 ein neuer Aufstand drohte. Das war 1961 den meisten Menschen klar, deshalb warteten ja auch viele darauf, dass etwas geschehe.
Nicht nur stramme Kommunisten hatten Verständnis für Ulbrichts Bauwerk. Nicht wenige Menschen meinten, "irgendetwas" müsse passieren. Eine Mauer lag nicht außerhalb der Vorstellungswelt. Seit der Berlin-Blockade 1948/49, der eigentlichen Geburtsstunde Westberlins, war für Berliner und Berlinerinnen eigentlich alles denkbar. Als dann aber der Mauerbau am 13. August 1961 begann, war es dennoch für viele ein Schock. Noch drei Jahre lang flüchteten durchschnittlich täglich 50 Menschen in den Westen, erst allmählich erwuchs aus dem Drahtzaun und den Straßensperren jenes Mauersystem, das immer unüberwindbarer wurde.
Historisch liegt die eigentliche Überraschung aber eher darin, dass die Mauer erst 1961 gebaut wurde. Das ganze Sowjetreich mitsamt den osteuropäischen Satrapien war eingemauert, mit Stacheldraht umgeben, militärisch bewacht. Allein an der tschechisch-österreichischen Grenze kamen rund 1.000 Tschechen und Slowaken ums Leben. Man mag gar nicht hochrechnen, wie viele Tote es an der gesamten, zehntausende Kilometer umfassenden Außengrenze des Sowjetreiches gegeben hat. Zwar war auch seit 1952 die innerdeutsche Grenze ziemlich dicht, aber Berlin als Schlupfloch war offen geblieben. Noch erstaunliche neun Jahre lang. Natürlich, die Kommunisten hatten immer wieder gehofft, Westberlin zu tilgen, zu übernehmen.
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Dies ist ihnen übrigens erst Ende der achtziger Jahre gelungen - nur virtuell. In der S-Bahn Ostberlins hingen Streckenpläne, in denen der weiße Fleck, der seit einigen Jahren West-Berlin "markierte", verschwunden war. Ostberlin grenzte nunmehr direkt an Potsdam.
Die Mauer war für die Kommunisten ein Überlebensbauwerk. Sie musste errichtet werden, um die DDR zu retten. Als die Mauer fiel, war die größte DDR der Welt auch dahin.
Aber nicht nur die DDR. Auch Westberlin, über das heute kaum noch geredet wird, war zu Ende. Geboren 1948 als Frontstadtkind, stabilisiert und zum Mythos gemacht 1961, sang- und klanglos verstorben in einer Novembernacht 1989.
Die Geschichte Westberlins war von Zufälligkeiten und Irrtümern gekennzeichnet. Wäre es nach US-Präsident Franklin D. Roosevelt gegangen, hätte es die Insel Westberlin nie gegeben. Er hatte im November 1943 überlegt, die künftigen Grenzen des besetzten Deutschlands so zu legen, dass Berlin genau auf jener Grenze zwischen sowjetischer und britisch-amerikanischer Zone liege. Die Reichshauptstadt wäre auch geteilt worden, aber das Hinterland Westberlins wäre die spätere Bundesrepublik geblieben.
Westberlin entstand also zufällig. Es ging genauso zufällig unter. Schabowskis Pressekonferenz am frühen Abend des 9. November 1989 hatte nicht zum Ziel, die Mauer einzustürzen. Es ging darum, einige Hunderttausend Menschen aus der DDR abziehen zu lassen, um so Druck aus dem Kessel zu lassen. Anschließend sollten die Tore wieder geschlossen werden, um im Prinzip weiterzumachen wie bisher. Die Menschen im Osten und die Westmedien hatten dies - zum Glück - nicht so verstanden und rissen wortreich und mit ihren Körpern die Mauer ein. Kaum jemand sah, dass sie damit auch Westberlins historische Sonderrolle beendeten.
28 Jahre stand die Mauer. Die Mauer war schlimm, noch viel schlimmer allerdings war für die Kommunisten die Existenz Westberlins. Ulbricht hatte dies als Erster erkannt und wollte deshalb Westberlin in sein kleines Reich eingliedern. Er ahnte und wusste wohl auch, dass Westberlin als Schaufenster des Westens, als Konsumtempel, als Lustoase, als Freiheitsinsel, als Leucht- und Sendeturm immer stärker und bunter strahlen würde als die eigenen, meist unerfüllten Versprechungen vom nahenden kommunistischen Paradies.
Westberlin symbolisierte nicht nur für Ostberliner, sondern auch für Mecklenburger, Brandenburger, Sachsen und Thüringer all das, was sie in den eigenen vier Mauern vermissten: Freiheit, Bücher, Bananen, Mars, Coca-Cola, schnelle Autos, Drogen, Prostituierte oder Pornos. Rias und SFB strahlten ununterbrochen aus, was im Osten unterdrückt wurde. Wollte man wissen, was in Ostberlin, Rostock oder Suhl wirklich los war, musste man einen Westberliner Radiosender hören. Es gab nur wenige tausend Ostmenschen, die das nicht taten. Ohne die Westberliner Radio- und Fernsehprogramme hätte die Mauer vielleicht noch ein paar Jahre länger gestanden.
Allerdings führte das dazu, dass Westberlin millionenfach im Osten verklärt wurde. In Westberlin hatte man solche Probleme mit dem Osten nicht. Der war nicht nur grau, langweilig, unfreundlich, irgendwie bekloppt, ekelerregend und abstoßend. Der war auf eine eigentümliche Weise immer mehr aus dem Blick geraten. Kreative Freizeitmaler bepinselten die Mauer mit lustigen Bildchen, während auf der anderen, nicht einsehbaren Seite Menschen erschossen wurden, weil sie die Mauer von der lustigen Seite sehen wollten. Darauf muss man erst einmal kommen - eine in Betrieb befindliche öffentliche Hinrichtungsstätte zu bemalen. Heute glauben die meisten Touristen beim Betrachten der East Side Gallery, die sah auf der Ostseite auch vor 1990 schon so aus.
Westberlin genügte sich selbst. Kreuzberg wurde zum Mythos im Mythos, ebenso wie die Wilmersdorfer Witwen. Überhaupt, fast nichts in Westberlin blieb mythenfrei, nichts war normal, alles ganz außergewöhnlich - so jedenfalls die meisten Insulaner. Erst der Mauerfall legte offen, wie schön provinziell Westberlin in all den Jahren der scheinbar grenzenlosen Freiheit geworden war. Das war eine sehr gute Voraussetzung, um einigermaßen problemlos und in Harmonie mit dem Kaff Ostberlin zusammenwachsen zu können.
Nun leben wir in einer Weltstadt. Voraussetzung dafür war auch, dass Berlin wie viele andere Weltstädte blieb, was es immer gewesen war: eine mehr oder weniger zufällige Ansammlung von mehr oder weniger großen Dörfern, die sich zusammen Stadt nannten. Dorfbewohnern wirft fast niemand vor, wenn sie ihr Dorf nicht verlassen. In einer Stadt zu leben, aber das eigene Dorf und den eigenen Kiez nicht zu verlassen, kommt manchem Stadtsoziologen und Kommunalpolitiker wie ein mittelschweres Verbrechen vor. Dabei ist das eine Vorbedingung, um überhaupt Weltstadt werden zu können. Für Berlin war es sogar überlebensnotwendig nach 1989, denn nur so konnte gewährleistet werden, dass Glatzköpfe aus dem Osten Kreuzberg, Wedding oder Neukölln verschonten.
Müssen wir uns eigentlich mit dem Mauerbau und dem Mauerfall beschäftigen? Natürlich nicht. Wäre ja noch schöner, wenn dies irgendwem vorgeschrieben würde. Wäre auch so ein später Sieg von Ulbricht.
Und müssen wir uns so mit dem Mauerbau beschäftigen, wie es nun monatelang öffentlich geschah? Um Himmels willen, erst recht nicht. Ich jedenfalls habe genug von den Speisekarten in Washington, Moskau, Wien, Berlin und Bonn gehört und gelesen. Und noch mehr habe ich genug von der unseligen Geschichtsbetrachtung à la "Große Männer machen Geschichte".
Wie es nicht gemacht werden sollte, haben wir jetzt jedenfalls zur Genüge erfahren. Beim nächsten Jubiläum sollten wir mal wieder mehr darauf schauen, was die "normalen" Menschen dachten, wussten, wollten, sahen, wie sie sich fühlten und liebten, wie sie hassten und klauten, überhaupt schauen, was Alltagsleben bedeutet, zum Beispiel in einer von einer todbringenden Mauer geteilten Stadt.
ist Historiker und Autor zahlreicher Bücher zur Zeitgeschichte. Zuletzt erschienen "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR" und "Die 101 wichtigsten Fragen: DDR", beides im C. H. Beck Verlag
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