: Die Macht der Klischees im Barbie–Prozeß
■ Manche Zeugen sind im Prozeß in Lyon vor allem auf Publicity bedacht / Das Verfahren als Verkaufsargument für vorgezogene Memoiren / Andere Erinnerungen lassen das Vorwissen vergessen und den Kriegsfilm reißen / Die Geschichte des Elie Nahmias
Aus Lyon Lothar Baier
Es gibt Zeugenauftritte vor dem Schwurgericht in Lyon, die sich kaum von einer der ihnen vorausgegangenen oder nachfolgenden Pressekonferenzen unterscheiden. Das Gesicht optisch dem Gericht vor ihnen zugewandt, sprechen manche Zeugen in Wahrheit zu dem Publikum, das sie im Rücken wissen. Was sie zu sagen haben, haben sie bereits in Büchern dargelegt, die rechtzeitig zu Prozeßbeginn erschienen sind und stapelweise in den Buchhandlungen Lyons ausliegen. „Wie ich Barbie zur Strecke brachte ...“ heißt es bei Gustavo Sanchez, dem früheren bolivianischen Vize–Innenminister. Vor Gericht allerdings schrumpft die ausschweifende Erzählung des Barbie–Jägers auf ein mit Anekdoten ausgeschmücktes allgemeines Lamento zusammen, dessen Armseligkeit nicht nur Barbies Verteidiger Verges, sondern auch der Staatsanwalt Truche rügt. Erhard Dabringhaus, Barbies zeitweiliger Führungsoffi zier beim US–Geheimdienst CIC, hat zu seinem Auftritt als Zeuge ebenfalls ein Buch mitgebracht. Der Barbie–Prozeß als Verkaufsargument für vorgezogene Memoiren. Es gibt Zeugenaussagen in Lyon, die auch ohne Buch zum Prozeß wie einstudierte Theaterauftritte wirken. Wenn es sich, wie im Fall des heute in New Yorck lebenden ehemaligen Mitglieds der gaullistischen „armee secrete“ Michel Thomas, um einen wichtigen Zeugen handelt, beschwört das Einstudierte den katastrophalen Reinfall herauf. Thomas ist der einzige Zeuge, der Barbie bei der Razzia auf das Lokal der jüdischen Organisation UGIF in Lyon in Person gesehen und mit ihm gesprochen haben will. Doch kaum hat er vor Gericht den Mund aufgemacht, hat er auch schon den großen Vorschuß an Glaubwürdigkeit verspielt. Der Zeuge will den sprichwörtlich unvoreingenommenen Zeugen spielen, der noch nicht mitbekommen hat, daß Barbie nicht mehr in der Box sitzt, jener Barbie, den er, wäre er nur anwesend, sofort an dem „unvergeßlichen Ausdruck“ und an dem „abgespreizten kleinen Finger“ erkannt hätte. Der Zeuge ist aber auch ein Mann von Welt, der gerade mit einem amerikanischen Fernsehteam unterwegs war, der Time– Magazine liest, nur ausgerechnet von Barbies Auszug aus dem Gericht weiß er nichts. Die Kette der Widersprüche reißt nicht ab. Einerseits waren die Gestapo– Leute in Zivil, andererseits kann sich Michael Thomas noch genau an die „schwarzen Stiefel“ erinnern. Schließlich ist die Zeugenaussage nicht mehr von der pathetischen Nacherzählung eines Kriegsfilms zu unterscheiden, in dem gestiefelte und zynische Nazis von einem superschlauen Widerstandskämpfer an der Nase herumgeführt werden. Es gibt aber auch Zeugenaussagen in Lyon, die den Kriegsfilm reißen und alles Vorwissen vergessen lassen. Gilberte Jacob ist Sozialhelferin bei der UGIF gewesen und nach der Razzia vom Februar 1943 nach Drancy depor tiert worden, dem Durchgangslager für die in Frankreich verhafteten Juden. Zwei Jahre Zwangsarbeit, Irrfahrten durch Deutschland nach der Befreiung von Paris, Zwischenstation Bergen–Belsen, am Ende der Anblick sowjetischer Uniformen bei Torgau. Es sind nicht die Schreckensschilderungen selbst, die den Schrecken in den Gerichtssaal tragen, sondern es sind die Erinnerungen, die, gerade weil sie mit der verhandelten Sache nichts zu tun haben, die Sache treffen, die hinter dem Namen „Holocaust“ verschwindet. Die Erinnerung der Zeugin an die Bilder, die ein Deportierter an die Wände des Kinderlagers in Drancy gemalt hat, den Fabeln Lafontaines folgend - letzte Bilder von der Welt der Lebendenen vor dem Abtransport der Kinder in die Todeslager. Die Geschichte des Töpfers Elie Nahmias ist unvergeßlich, gerade weil sie sich aller Effekte enthält, die ihre Unvergeßlichkeit betonen. Im Mai 1944 von Barbie auf der Straße aufgegriffen, als er im Dienst des Roten Kreuzes unterwegs war, ist der Zeuge auf eine Odyssee durch die KZs geschickt worden, die mit der Befreiung von Dachau endete. Auch wenn man darüber gelesen hat, von den Exekutionen der Häftlinge in Auschwitz, wenn sie ihre Mütze verloren hatten, von der chaotischen Evakuierung des Lagers beim Vorstoß der Roten Armee, von den Gewaltmärschen, zu denen die ausgemergelten Häftlinge bei eisiger Kälte Richtung Westen gezwungen wurden - es ist, als wäre es erst jetzt zu begreifen, wenn es ein kleiner alter Mann in einfachen Worten erzählt. Die Aussage des Elie Nahmias ist kein Höhepunkt, es ist nicht einmal eine Zeugenaussage im strengen Sinn, da der Überlebende als Nebenkläger auftritt. Aber sie ist es, bei all dem Schrecken, von dem sie Zeugnis ablegt, ein Lichtblick, der das Spektakel und den Kriegsfilm überstrahlt, ein Triumph der Geschichte eines einzelnen Opfers über die Macht des Klischees. Solche Geschichten zu erzählen, scheint noch schwerer, als in diesem Prozeß Recht zu sprechen.
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