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: Die Macht der Golfstaaten

Im Sudan bietet sich eine historische Chance. Wenn der Westen die nicht verpassen will, muss er neue geopolitische Realitäten beachten

Foto: Kfir Harbi

Theodore Murphy ist Direktor von Mediation Europe. Die gemeinnützige Organisation mit Sitz in Berlin unterstützt eine multilaterale europäische Außenpolitik.

Nach 25 Jahren brutaler Diktatur des Generals Omar al-Bashir kam es Ende 2018 im Sudan zu einem Volksaufstand, der al-Bashir und seine Nationale Kongresspartei (NCP) von der Macht verdrängte. Als Subven­tio­nen gekürzt wurden und der Brotpreis erhöht, brach sich die aufgestaute Frustration einer liberalen jungen Generation, die sich durch die autokratische islamistische Herrschaft der NCP wie im Würgegriff fühlte, ihren Weg.

Das Regime hätte den Sturm überstehen ­können, wenn sich nicht ein Teil der hinter al-Bashir stehenden Milizen gegen ihn gewandt hätte. General Mohammed Hamdan Daglo, genannt Hametti, Anführer der Rapid Support Forces (RSF), weigerte sich, die Protestierenden niederzumetzeln, denn er hatte rechtzeitig erkannt, wer sich in diesem Machtkampf durchsetzen würde.

Die sudanesischen Oppositionellen hegen ein wohlbegründetes Misstrauen gegen Hametti. Im Darfurkonflikt agierten die RSF als al-Bashirs Schergen. Auch ideologisch hat Hametti nichts mit den liberalen Kräften, den Islamisten oder der übrigen politischen Klasse im Sudan gemein. Er agiert politisch so, wie es die Umstände eben erfordern. Als Hametti nach dem Sturz al-Bashirs Mitte 2019 kurzzeitig die Macht errang, gingen seine RSF gegen die Protestierenden vor, die sie zuvor noch geschützt hatten. Sie hinterließen dabei 60 Tote.

Die Revolution war nur möglich, weil sich das Militär mit den Protestierenden in einer ungewöhnlichen Allianz verbündete. Die darauffolgende Übergangsregierung stand vor der Aufgabe, dieses Bündnis zu institutionalisieren. Es war der Geburtsfehler des Übergangsprozesses: eine Regierung mit zwei gegensätzlichen Polen, in der jede Seite dachte die eigentliche Machtposition inne zu haben. Die internationale Gemeinschaft begrüßte die Übereinkunft erleichtert. Aber sie fand keinen Weg, Einfluss auf das paradoxe Kon­strukt einer doppelköpfigen Regierung zu nehmen, und beschränkte sich darauf, ihre Unterstützung für die oppositionellen Kräfte und eine Zivilregierung zu betonen. Diese sollten ihre Vision eines neuen Sudan umsetzen.

Hamettis Aufstieg wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht die Achse Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien und Ägypten ihren Einfluss im Sudan ausgeweitet und die traditionellen Streitkräfte des Sudan unterstützt hätte. Die Mächte am Golf waren sich zwar in Details uneins, wollten aber alle die Islamisten im Sudan ausschalten. Auch geopolitische Veränderungen machten sich deutlich bemerkbar. Die wichtigste war der Rückzug der USA vom Horn von Afrika. Obama hatte damit begonnen, unter Trump wurde der Rückzug beschleunigt. Ein Machtvakuum entstand somit lange vor der sudanesischen Revolution. Aber durch al-­Bashirs Sturz wurde es unübersehbar. Das große Pokern um die Zukunft des Sudan nahm seinen Lauf, und wer hier siegen würde, war für die Golfstaaten eine drängende Frage der nationalen Sicherheit.

Und hier müssen wir abermals von General Hametti reden, denn er war seit langer Zeit der Favorit der Golfstaaten. Er war bereit gewesen, für deren Interessen im Jemen zu kämpfen, ganz wie einst für al-Bashir in Darfur. Mit Hametti sahen die Emirate und Saudi-Arabien jemand, mit dem ein Vasallenstaat nach ihren Vorstellungen geformt werden könnte: antiislamistisch, autoritär und pragmatisch. Während Hametti als Figur aufgebaut wurde, bemühten sich die Golfstaaten darum, alle Reste des islamistischen Regimes aus den Institutionen des Sudan zu tilgen.

Dies alles geht Europa auf grundsätzlicher wie realpolitischer Ebene etwas an. Auf die erfolgreiche Revolution folgten Bekenntnisse auf höchster europäischer Ebene, die liberalen und demokratischen Kräfte im Sudan, also die zivile Hälfte der Regierung, unterstützen zu wollen. Nichts sähe man lieber als einen Sudan, der zum freiheitlichen Leuchtturm in der Region würde, zum Muster eines Umsturzes einer islamistischen Diktatur.

Aber es gibt auch ganz praktische Interessen. Im Sudan überschneiden sich zahlreiche bedeutende Migrations- und Schmuggelrouten, etwa aus dem Südsudan, Eritrea und Äthiopien kommend und dann über die löchrige Südgrenze Libyens in dieses Bürgerkriegsland und nach Ägypten. Ein Bogen der Instabilität vom Roten Meer über Sudan bis nach Libyen könnte entstehen. Äthiopien ist derzeit selbst fragil und wäre durch einen destabilisierten Sudan in Not. Europa müsste in der humanitären Krise helfen und mit einem neuen Mi­grationsschub umgehen. Ein gescheiterter Sudan würde auch neuen Terrorismus in Europas Nachbarschaft produzieren.

Ein Bogen der Instabilität könnte entstehen: vom Roten Meer über Sudan bis nach Libyen

Wie vermeidet man solch einen Worst Case? Vor allem müsste man die Spaltung zwischen Militär und Zivilgesellschaft verringern und beide Seiten der Regierung zur Kooperation zwingen. Die internationalen Unterstützer haben einen starken Hebel in der Hand: Da das wirtschaftliche Überleben des Sudan gegenwärtig von internationalen Geldgebern abhängig ist, muss Khartum auf die hören, die die Finanzhilfen bereitstellen. Doch auch die Staaten am Persischen Golf setzen ihre Milliarden ein, und sie unterstützen allein die militärische Seite. Somit ist es für Europa unmöglich, eine Unterstützung der zivilen Seite im Sudan zu verwirklichen und ohne die Golfstaaten ein re­gio­nales Chaos zu verhindern.

Diese neue Realität verlangt eine neue Herangehensweise. Das bisherige Modell unter der formellen Führung der Afrikanischen Union, mit Europa als Unterstützer und den USA als treibende Kraft im Hintergrund, trägt nicht mehr. Sollten die Golfstaaten den Sudan in ihre Einflusssphäre ziehen, gälten völlig neue Spielregeln. Um seine Ziele im Sudan zu erreichen oder auch nur das Schlimmste zu verhindern, muss Europa sich mit der zentralen Rolle der Golfstaaten befassen.

Übersetzung: Stefan Schaaf