■ Die Linke und der Staat (5): Nicht die friedensichernde Funktion des Staates ist den Linken wichtig, sondern die umverteilende, vorsorgende: Wie stark soll der Staat sein?
Der französische „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. soll 1655 gesagt haben: „L'état c'est moi“ (Der Staat bin ich). Man hat das als eine prägnante Kurzfassung des absolutistischen Staatsverständnisses gedeutet: schrankenlose Machtvollkommenheit jenes zentralisierten Staates, der der spätmittelalterlichen Vielfalt ein Ende machte und rücksichtslos den Weg in die Neuzeit eröffnete. In Wahrheit war dieses Staatsverständnis alles andere als modern. Es stammte direkt aus einer mittelalterlichen Tradition, in der der Körper des Königs als heilig, gottgleich galt und das Gemeinwesen buchstäblich verkörperte. Solches Denken war vorsäkular, und es enthielt mehr als nur Reste des Magischen.
Dieses Staatsbild hat nie an Anziehungskraft verloren. Denn anders als die auf die Gewaltenteilung abzielende Staatstheorie ersparte es die Mühen der Ausdifferenzierung, besaß den dunklen Reiz des Schauerlichen und war gut geeigent, den einzelnen zu entlasten: Der Staat war stets das monströse andere, in dem der einzelne nicht aufgehoben, sondern negiert war. Man selbst kam nicht vor. Das linke Staatsverständnis war immer auch aus dieser Tradition gespeist, die Linke war eigentlich nicht anti-, sondern a-staatlich.
Daß es einen institutionellen Rahmen geben soll, der den gesellschaftlichen Akteuren den zivilisierten Umgang miteinander ermöglicht und der deswegen unantastbar bleiben muß, war keine Idee, die der Linken gut gefallen hätte. Aus dieser Mißachtung des Staats folgte jedoch keineswegs, daß der Linken der Staat gleichgültig gewesen wäre. An klarsten hat Lenin die linke Beutegier gegenüber dem Staat zum Ausdruck gebracht: unter den Nagel reißen, nie wieder aus der Hand geben! Diese Tradition hat eine lange Wirkkraft, noch bei den Grünen ist sie zu spüren. Im Gehäuse des Staates bewegen sie sich oft wie in einem fremden, gefahrvollen Gemäuer. Lieblos repräsentieren sie einen schmucklosen Staat.
Der Rechtsstaat ist etwas Konservatives. Die friedensstiftende Verläßlichkeit von Institutionen verdankt sich nicht dem jeweiligen Augenblick, sondern der Vergangenheit, in der sie Stabilität erworben haben. Wenn es gutgeht, sind im Staat und seinen Institutionen die Erfahrungen, Lernprozesse und Entscheidungen vergangener Generationen inkorporiert. England und die USA lehren: Je älter, also traditionsreicher eine Republik ist, desto stabiler ist sie.
Der Staat muß Autorität besitzen. Seit den europäischen Glaubenskriegen weiß man, daß Barbarei und der Krieg aller gegen alle eine Gefahr sind, die nie endgültig gebannt sein kann. Aus dieser Einsicht heraus wurde der Staat zum machtbewehrten Kompromiß aller potentiellen Streithähne. Überspitzt gesagt: Der Staat funktioniert, weil ich nicht zum Zuge komme und eingeschränkt werde. Der Staat ist angenehm, weil er schützt, und er ist unangenehm, weil er beschneidet. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.
So gesehen ist das linke Lob auf den Staat einseitig, es hat nur den angenehmen Staat im Auge – den Sozialstaat und den Staat, der die individuellen Freiheitsrechte schützt. Ohne Sozialtransfers, ohne die Verstaatlichung des Sozialen wäre die ganze Veranstaltung den linken Staatshütern vermutlich kaum der Rede wert. Nicht die nach innen wie außen friedensichernde Funktion des Staates ist ihnen wert und teuer, sondern seine umverteilende, egalisierende, versorgende. Sie wollen den Staat als letztlich pädagogische Instanz, die herzustellen hat, was Aufgabe der Gesellschaft zu sein hätte: Gerechtigkeit.
Zum starken Sozialstaat scheint in dieser Optik ein schwacher Staat der inneren und äußeren Sicherheit bestens zu passen. Doch das ist schon unter den Prämissen linker Sozialstaatsverteidigung falsch. In den Zeiten der Globalisierung nimmt auch die Sicherheit jener ab, die die großen Gewinner des Wohlfahrtsstaates gewesen waren: der „kleinen Leute“, also der Mehrheit der Bevölkerung. Ein kräftiger Sozialstaat wird in Zukunft auf sein Gegenstück angewiesen sein: den starken Staat.
Warum wollen die linken Hüter des Staates dessen außersoziale Schutzfunktionen verstecken? Trotz schärfster Kritik aus den eigenen Reihen mußte Jürgen Trittin seine Berliner Polemik gegen die Bundeswehr im Grunde nicht zurücknehmen. Er hat nur, etwas überspitzt, das formuliert, was linksliberaler Konsens der alten Bundesrepublik war und noch ist: Als Gewaltmonopolist soll sich der Staat möglichst unsichtbar machen, soll sich aufs Regieren des Verkehrs beschränken, sich zurücknehmen.
In dieser Logik ist es konsequent, die zähneknirschend geduldete Bundeswehr (oder Polizei) möglichst weit wegzuschließen. Man kann daran ablesen, wie schlecht es um die linke und auch liberale Unterstützung für diesen Staat steht. Denn wenn man eine demokratisch legitimierte und gesinnte Bundeswehr und Polizei wollte, dann müßte man an öffentlichen Gelöbnissen von Soldaten, die ihren Eid auf die Verfassung ablegen, interessiert sein: Dies hat mit Militarismus kaum etwas, mit Verfassungspatriotismus aber eine Menge zu tun. Indes, das heile Bild von den potentiell bösen Gewaltmonopolisten ist wertvoller als die demokratische, im symbolischen Akt unterstrichene Einhegung derselben.
Während wir der Schieflage – ja zum Sozialstaat, zumindest jein zum gewaltbewehrten Staat – entkommen, könnten wir über Lohnenswertes streiten. Über die Frage etwa, ob es nicht an der Zeit wäre, über die „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ nachzudenken, denen Deutschlands prominentester Liberaler, Wilhelm von Humboldt, schon vor mehr als 200 Jahren eine lesenswerte Schrift gewidmet hat. Humboldt warnte früh vor der Gefräßigkeit des Staates, vor dem ihm innewohnenden Hang, die Gesellschaft zu schwächen, zu enteignen. Staat und Freiheit, schien er sagen zu wollen, haben zwar etwas miteinander zu tun, sind aber auch über Kreuz. So wichtig die Integrität des Staates ist, es muß immer auch darum gehen, im Namen der Freiheit den Staat zu begrenzen.
Gegen die kopflosen Entstaatlicher scheinliberaler Provenienz gilt: Ein schwacher Staat schwächt die Gesellschaft und gefährdet die Freiheit. Gegen die linken Hüter des Staates, die mehr Staat fordern, gilt ähnliches. Ein voluminöser Staat schwächt die Gesellschaft und gefährdet die Freiheit. Wir haben keine Wahl, mit beiden Gefahren müssen wir uns herumschlagen. Der Staat: das sind irgendwie wir. Weil wir aber sind, wie wir sind, muß der Staat auch mehr sein. Thomas Schmid
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