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■ Die Linke und der Staat (2): Die neuen internationalen Institutionen müssen dem Zugriff autoritärer Technokraten entrissen werdenIm Visier

Der moderne demokratische Staat ist nicht nur überladen, er ist überwältigt. Er ist in seinem Kern sowohl von der Macht des nationalen und internationalen Kapitals bedroht als auch von der Zersplitterung und Reglosigkeit von Öffentlichkeiten, die stumme Träger beliebiger Ideologien und Vorstellungen geworden sind. Zwar haben die heute üblichen Formen von Politik das Konzept vom Bürger nicht ausgelöscht, aber die Auflösung der Demokratie schreitet fort. Bei vielen Nachrufen auf den Staat handelt es sich in Wahrheit um einen kaum verhüllten Abschied von zeitgenössischen Formen der großen Errungenschaft der Moderne: der Möglichkeit, daß autonome und rational handelnde Bürger Souveränität entwickeln könnten.

Einige dieser Nachrufe versuchen erst gar nicht, Bedauern über diese Entwicklung vorzutäuschen. Und die Befürworter einer maximalen Freiheit des Marktes gehen ohnehin vom Staat als Feind aus. Wo Hayek oder Popper einst noch mit rationalen Argumenten dafür plädierten, die Bandbreite staatlichen Handelns einzuschränken, reduzieren ihre Epigonen Argumente auf Dogmen. Die Verfechter einer neuen autoritären Ordnung halten dabei die Erweiterung kultureller und politischer Wahlmöglichkeiten per se für zerstörerisch. Ihre Vorstellungen von Recht und Ordnung erinnern auf unheimliche Weise an die 20er und 30er Jahre, als faschistische Bewegungen die Demokratie um das vorgebliche Wohl einer „wahreren“ Gemeinschaft willen angriffen.

Unter diesen Umständen überrascht es um so mehr, daß sich viele, die die Demokratie wiederbeleben wollen, auf eine fiktive Größe namens „Zivilgesellschaft“ konzentrieren – oder die amerikanischen „Kommunitaristen“ als intellektuelle Neuerer rühmen, obwohl diese sich keineswegs klar sind oder gar einig in ihren Ideen von „community“. Daß sich Gesellschaften aus einer Vielfalt von Gruppen und Institutionen zusammensetzen und daß diese oft auch ohne staatliche Steuerung funktionieren, ist eine Einsicht, die schon mittelalterlichen Denkern vertraut war. Schließlich stammen die Konzepte von Subsidiarität aus dieser Zeit. Wer jedoch aus der Zivilgesellschaft einen neuen historischen Akteur macht, schreibt ihr eine Form organisierter Zielstrebigkeit zu. Das aber wäre Ausdruck eines vermenschlichten Mythos von Politik, nicht Ergebnis eines ernsthaften Verständnisses von Politik.

Die Oppositionsbewegungen unter stalinistischen und neostalinistischen Regimen sowie unser eigener Protest in den Sechzigern verlangten von den herrschenden Eliten, sie mögen sich dadurch legitimieren, daß sie dem vernunftbegründeten Urteil der Gesellschaft folgen. Sie forderten also demokratische Formen von Herrschaft und nicht die Aufgabe des Staates.

Was die „Kommunitaristen“ betrifft: Es ist ja durchaus zutreffend, daß wir alle in konkreten Gemeinschaften aus Familien, Freunden, Kollegen und Nachbarn leben – doch das trifft auf Skinheads in Magdeburg ebenso zu wie auf Professoren in Göttingen. Es ist gleichermaßen zutreffend, daß vielen Leuten eher spezifische kulturelle, ethnische und religiöse Zusammenhänge wichtig sind. Doch daraus folgt weder auf moralischer noch praktischer Ebene, daß die Verpflichtungen und Vorteile des Status als Bürger in einer politischen Gemeinschaft als zweitrangig betrachtet werden können.

Der moderne demokratische Staat zeichnet sich durch eine ganze Reihe von Errungenschaften aus, nicht zuletzt die Einführung des Konzepts des Bürgers und die Förderung von bürgerlichen Rechten. Vor rund hundert Jahren begann er überdies, die Brutalität und den Egoismus des Marktes im Namen des Bürgers zu disziplinieren. Hinzu kommt der moderne Sozialstaat – den wir jetzt zu demontieren geheißen sind, wenn es nach dem Willen von Gruppen und Denkern geht, die für sich nicht gerade Unparteilichkeit beanspruchen können.

Die gegenwärtigen Schwierigkeiten des demokratischen Staates sind einer gigantischen und gleichzeitigen Gegenoffensive sehr unterschiedlicher Kräfte geschuldet. Da ist zum einen das Großkapital, dessen Apologeten die Würde der liberalen politischen Theorie fehlt, die Adam Smith oder John Stuart Mill einst zu Vordenkern der modernen Demokratie gemacht hat. Die Internationalisierung des Kapitals verweigert all denen, die seine Subjekte werden, sowohl Repräsentation als auch Solidarität. Die Antwort darauf liegt nicht in der Unterwerfung demokratischer Souveränität unter autoritäre Technokraten (die neuen preußischen Höflinge sitzen in Brüssel, und die Nachkommen der Spekulanten des 18. Jahrhunderts bestimmen den Kurs von Nafta). Vielmehr geht es um die verhandelte Ausdehnung von Demokratie auf neue internationale Institutionen. Die Europäische Sozialcharta, der Delors-Plan für Beschäftigung sind solche möglichen Antworten auf die Internationalisierung des Kapitals. Die amerikanischen Gewerkschaften haben ihrerseits das amerikanische Kapital mit ihrem Beharren schockiert, die Privatisierung der staatlichen Renten müsse von der Schaffung von Sozialfonds begleitet sein – gesteuert vom Staat.

Wütender und dunkler Provinzialismus ist gleichermaßen ein Feind des demokratischen Staates mit seiner metahistorischen Strömung des Universalismus. Ich bin mir durchaus bewußt, daß der moderne demokratische Staat im Jahr 1914 das Instrument des Massenphänomens Chauvinismus war. Doch das ist der Preis der Demokratie: das unablässige Risiko der Regression angesichts der massiven psycho-kulturellen Ansprüche, die mit dem Konzept vom Bürger einhergehen. Die Unterminierung des Nationalstaats durch das internationale Kapital wurde in der Entwicklung des Faschismus besonders deutlich: Nichts läßt sich gewinnen, alles geht verloren, sobald die Dummheit und Beschränktheit einer Politik der Isolation bedient wird.

Die Kräfte des Nationalstaats können neu definiert, zusammengeführt und ausgerichtet werden. Die Demokratisierung internationaler Institutionen einerseits und die Verteidigung der Demokratie innerhalb unserer verschiedenen nationalen Grenzen andererseits sind nun wechselseitig verschränkte Aufgaben. Wer den Niedergang und die Impotenz des Staates heraufbeschwört, ohne sich um seine Wiederbelebung in neuem Gewand zu bemühen, betreibt nicht Realismus, sondern politische Resignation. Norman Birnbaum

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