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Archiv-Artikel

Die Letzte aus der Dutschke-WG

Die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister ist eine Weggefährtin von Rudi Dutschke, der heute 65 Jahre alt würde. Jahrelang lebten sie in einer Wohngemeinschaft. Ihr Dutschke-Film heute im Kino

VON WALTRAUD SCHWAB

Es ist keine spektakuläre Wohnung: vier Zimmer, Bad, kleine Küche. Im Berliner Zimmer steht ein Podest, ausgelegt mit Matratzen, über denen ein Zeltdach hängt. Eigentlich für Kinder reserviert, sei es auch der Lieblingsplatz von Rudi und Gretchen Dutschke gewesen, wenn sie in Berlin waren, meint die Dokumentarfilmerin Helga Reidemeister. Seit 1970 wohnt sie in der alten Wohngemeinschaft, im vierten Stock eines Hauses in der Pfalzburger Straße. „Mit Kindern waren es bestimmt zehn Leute.“

Die Dutschkes lebten unstet nach dem Attentat, das 1968 auf Rudi Dutschke verübt wurde. Sie wohnten mal in Berlin, dann wieder in Dänemark, der Schweiz, Norwegen. „Die Pfalzburger ist ein Anker“, habe Rudi aber immer gesagt. Die CIA, die in einem Haus auf der anderen Straßenseite eingemietet gewesen sei, und der BND, der im angrenzenden Hinterhaus saß, sollen das auch so gesehen haben. „Zwei Monate nach Rudis Tod sind sie ausgezogen“, erzählt Reidemeister.

Die Filmemacherin ist keine, die sich als Person in den Vordergrund drängt. Sie führt die Besucher durch die Wohnung, aber außer dem bekannten, von ihr gemachten Foto, das Dutschke mit Ernst Bloch am dänischen Strand zeigt, gibt es nichts, was auf ihren ehemaligen Mitbewohner verweist. Gut, in der Mitte des Durchgangszimmers steht ein großer Tisch. Hier wurden Antworten auf die Frage gesucht, wie Glück nicht ein Privileg von Wenigen bleibt. „Umstürze wurden hier keine geplant“, meint sie. Die Polizei sah das anders. Bei Hausdurchsuchungen bat Reidemeister die Polizisten, wenigstens die Kinder nicht zu bedrohen.

Aus der Distanz wirken alle Fragen, die der Filmemacherin gestellt werden, falsch. Die Wohnung in der Pfalzburger Straße ist kein Dutschke-Museum. Tisch, Zeltbett, Hausdurchsuchungen – aus solchen Details wird kein Ganzes. Eine Plakette hängt auch nicht außen am Haus: Ab und zu wohnte hier Rudi Dutschke (1940–1979), Frontmann der 68er, wenn er in Berlin weilte.

Reidemeister ist die Letzte aus der alten WG. Die Rolle, Hüterin einer Noch-nicht-Gedenkstätte für Dutschke zu sein, die ihr da plötzlich zugeschoben wird, gefällt ihr nicht. „Heldenmythos, Märtyrerkult, Opferstatus – das ist das Letzte, was Rudi gerecht wird.“ Ein Einzelner könne ohne eine Bewegung nichts ausrichten. „Es war Rudi eine Qual, als Führer herausgepickt zu werden. Er war auffällig, weil er ein freundlicher, mutig denkender, wissender Mensch war.“

Acht Jahre nach seinem Tod hat sie über ihren ehemaligen Weggefährten, der heute 65 Jahre alt werden würde, den Film „Aufrecht gehen“ gemacht. Zu spät übrigens, wie sie findet. „Wir haben es zu seinen Lebzeiten nicht getan, weil wir ihn nicht verwerten wollten.“ (Siehe unten.)

Reidemeister, genauso alt wie Dutschke, ist selbst eine 68erin. Sie war ab 1966 im SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, von dem der gesellschaftliche Aufbruch ausging. Eigentlich hatte sie Malerei an der Hochschule für bildende Kunst in Berlin studiert. Durch die Studentenbewegung politisiert, arbeitete sie zwischen 1968 und 1973 als Sozialarbeiterin im Märkischen Viertel. Über diesen Weg kam sie zum Film.

Reidemeister will die Wirklichkeit, die sie beunruhigt, dokumentieren. Sie will Menschen zeigen, die nicht aufgeben, auch wenn die Umstände gegen sie sprechen. „Ich bin dem Prinzip Hoffnung verpflichtet. Ich brauche das Prinzip Hoffnung selber. Ich suche in meinen Filmen Leute, die etwas Widerständiges denken und leben. Ich tu’s für mich, damit ich überleben kann.“ Filme etwa über Arbeiterfrauen, Kinder auf Moskauer Krebsstationen, Frauen im Gefängnis, Friedensaktivistinnen hat sie im Laufe der vergangenen 25 Jahre gedreht. Sie versuche immer, jene Zusammenhänge abzubilden, die das private und individuelle einer Biografie in einen politischen und sozialen Kontext stellen, erklärt sie. Damit ist Reidemeister der feministischen Maxime, dass das Private politisch ist, bis heute treu geblieben. Das ist ihr Markenzeichen. Viele ihrer Produktionen sind mit Preisen ausgezeichnet worden.

Ihre radikale Sichtweise macht ihr das Leben nicht einfach. Zurzeit sucht sie Geldgeber für einen neuen Film. Anhand von Prothesenwerkstätten in Kabul will sie die Koordinaten einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt darstellen: Auf der einen Seite der Krieg, auf der anderen Seite die Mitmenschlichkeit. „Die Zeit, in der ich auf der Suche nach Geld bin, zwingt mir ein Höchstmaß an Entfremdung auf“, sagt sie und stützt am WG-Tisch den Kopf auf die Hände. Entfremdung – das ist, wogegen die ganze Aufbruchsgeneration einst Sturm lief.