■ Nur ein starker Staat kann fürs Allgemeinwohl eintreten: Die Leerstelle des Liberalismus
Wenn der neue FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt seine Partei gegenüber den Grünen hervorhebt mit der Bemerkung, daß diese zu sehr auf den Staat setzten, so sollen sich die Grünen den Schuh ruhig anziehen: Staatsbezogenheit ist genau das, was not tut und in der politischen Landschaft fehlt. Wenn der Liberalismus jetzt im Schwinden ist, liegt das an seiner mangelnden Zentriertheit in dem, was man früher „Allgemeinwohl“ nannte; daran, daß er verkommen ist zu einer Interessenvertretung der Unternehmer. Dem stehen die ebenfalls einseitigen, von der SPD vertretenen Gewerkschaftsinteressen gegenüber. Die Position des Allgemeinen aber ist unbesetzt. Aus Mangel an Staatsbezogenheit treiben wir dem Zustand entgegen, den Carl Schmitt in der Weimarer Republik „Staat als Beute“ nannte. Wie damals sind wir in einem „stillschweigenden System von Verantwortungsflucht“ gelandet, das „notwendigerweise zu einer „ständig fortschreitenden politischen Desintegrierung“ führt. Alexander Rüstow, der dies 1929 schrieb, prophezeite damals: Dauert diese Situation an, so wird Deutschland in ein paar Jahren für die Diktatur reif sein.
Im Unterschied zu Carl Schmitt, der die Diktatur befürwortete, vertrat Rüstow diesen Standpunkt als Liberaler. Ursprünglich Sozialist, hatte er seinen Antikapitalismus, nicht aber sein Engagement für die Massen aufgegeben – im Unterschied zu den heutigen Altlinken, die beides über Bord werfen. Rüstow schloß sich dem „Freiburger Kreis“ an, der sich „ordoliberal“ nannte, um sich von dem staatsabweisenden, einseitig unternehmerfreundlichen Liberalismus zu unterscheiden. Von ihm grenzten sich die Ordoliberalen durch ihre sozialethische Grundlage, vom Sozialismus aber durch ihre rückhaltlose Befürwortung der Marktwirtschaft ab. Gerade weil die Marktwirtschaft vom unsolidarischen Leistungsprinzip beherrscht wird, forderten sie einen starken Staat zur Wahrung des allgemeinen Interesses – insbesondere sahen sie die Behebung der Arbeitslosigkeit durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als staatliche Aufgabe.
Rüstows Konzept „Freie Wirtschaft – starker Staat“ wurde 1933 im Handstreich weggewischt, hatte aber 1948 seine Stunde, als es unter dem Schlagwort „soziale Marktwirtschaft“ auftrat und die Epoche Ludwig Erhards prägte. In der FDP wurde „soziale Marktwirtschaft“ als Etikett zwar beibehalten, aber das Ideal von einem Staat, der sich unabhängig hält und das soziale Ganze im Auge hat, verlor sich. Die FDP-Führung schlug sich auf die Seite der Unternehmer. Diese fühlten sich aber auch bei der CDU gut aufgehoben – besser sogar. Wenn man den Staat als Beute will, hält man sich klugerweise an die Partei, die die Macht in den Händen hält.
Der Liberalismus der FDP-Führung erschöpft sich heute darin, den Staat zum Verzicht auf allgemein nützliche Entscheidungen (zum Beispiel die Geschwindigkeitsbegrenzung) zu drängen. Daß die FDP zeitweise auch als Hüterin liberaler Grundrechte auftrat, ändert nichts an dem Verzicht auf die Gemeinwohl-Orientierung. Auch in seinen rechtsstaatlichen Impulsen ist der FDP-Liberalismus gegen staatliche Kompetenzen gerichtet.
Auf der Strecke blieb das, was die (versteckte) Grundvoraussetzung des Liberalismus ist – Staatsautorität. Es dient ja den liberalen Abwehrrechten nicht, wenn der Staat ein Teilsystem unter vielen ist, das nicht besonders viel zu sagen hat. Diese Rechte setzen ja voraus, daß die Ausübung von Macht, gegen die sie sich richten, monopolisiert ist. (Im Extrem: Wenn eine Privatarmee mich abholen darf, nützt mir die Habeaskorpusgarantie des Staates nichts.) Dieser Monopolisierungswille ist nicht mehr vorhanden. Der Gedanke der Repräsentation, die Abgabe von Entscheidungen an gewählte Vertreter, wird abgelehnt; die Idee des Allgemeinwohls wird abgelehnt, und jeder steht nur für eine Partikularität ein. In karikaturistischer Überzeichnung hat Möllemann dieses Bild geboten, als er seine Ministerposition dazu benutzte, ein „pfiffiges Produkt“ auf den Markt zu bringen.
Geht man jetzt davon aus, daß die FDP verschwindet, so wird ein ideologischer Platz frei: die liberale Position. Sie wird von der ständischen Überlagerung befreit, die sie mit einer einseitigen Auslegung besetzt hatte. Der klassische Liberalismus war keineswegs eine Doktrin der Staatsohnmacht. Diese Einseitigkeit entwickelte erst der Manchesterliberalismus des 19. Jahrhunderts. Er wurde in Deutschland eingedämmt durch den Einsatz der Staatsautorität, die unter Bismarck die Sozialgesetze einführte.
Mit dem Schwinden ihrer Überlagerung durch die FDP wird die neoliberale Position, diejenige der sozialen Marktwirtschaft, frei. Der SPD würde es gut anstehen, sie zu erobern, denn ihre Ideologie ist zusammengebrochen. Das sozialistische Element, das weggefallen ist, war ja mehr als nur ein Dekor – es gab der Sozialdemokratie die Hauptrichtung: die Hoffnung, die Lage der Arbeiterklasse dadurch zu heben, daß man die Verfügung über die Produktionsmittel aus Unternehmer- in Staatshand überführt. So abgeschwächt dieses Konzept auch in den letzten Jahren vertreten wurde, so bildet es doch bis heute die geistige Grundlage der Sozialdemokratie. Will die SPD mehr im Auge haben als Gewerkschafts- und Unterschichtsinteressen, nämlich das Ganze, muß ihr am Wohlergehen der Wirtschaft liegen. Tatsächlich hat die SPD diesen Umschwung vorgenommen; sie hat aber dabei ihr Gesicht verloren und schleppt noch einen verschwommenen, scheinhaften Antikapitalismus mit. Heute richten sich die fortschrittlichsten Energien der Partei gegen die Privatisierung der Post – und gehen da fehl. Die Sozialdemokraten scheuen sich davor, sozialliberal zu werden und offen ihre Farben und ihre Embleme zu wechseln. Die Scheu ist begreiflich – haben sie in ihrer Geschichte doch zuviel Kraft darauf verwendet, sich vom Besitzindividualismus abzugrenzen.
Deshalb wird es vielleicht eine andere Partei sein müssen, die das verlassene Erbe antritt. Warum nicht die Grünen, wo sie schon von seiten der sterbenden FDP der Staatsfixiertheit bezichtigt werden? Die Grünen brauchen ein Gedankengut, das über den ökologischen Ansatz hinausgeht und das Allgemeinwohl nicht nur durch Naturschutz zu wahren sucht. Das ordoliberale Denken verschafft ihnen das, was dazu nötig ist: die Bejahung der Staatsautorität bei gleichzeitiger Bejahung der antagonistischen Interessen der freien Wirtschaft. Aber auch die Grünen müßten sich entschließen, „zu springen“. Neigen sie doch zu Civil-Society-Modellen, die die verstärkte Partizipation mündiger Bürger fordern; die verstärkte Teilnahme an etwas, das im Prinzip abgelehnt wird. Die „Lebenswelt“ soll sich gegen das „System“ durchsetzen, statt daß dieses zur Idee des Allgemeinwohls geführt wird.
Das Gebot der Stunde ist Arbeitsbeschaffung, die sich nicht von herrschaftsfrei diskutierenden Bürgern, sondern nur von einem selbstbewußten Staat organisieren läßt. Sibylle Tönnies
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