Die Kuratorin Anna Mülter: Subversivität und Humor
Anna Mülter präsentiert ihre letzte Ausgabe des Festivals „Tanz Tage“ in Berlin. Die lokale Szene hat der umtriebigen Kuratorin viel zu verdanken.
„Words, Words, Words“ steht als Slogan auf Anna Mülters Hoodie. Unter anderem für ihre Message-Oberteile ist die Tanztage-Kuratorin auch bekannt. Zu jedem Anlass holt sie das passende Motto aus dem Schrank.
Meist geht es um ironische Winks im Kontext Feminismus und Diversität, dieses Mal eher um Abschied: Nach erfüllten Jahren als Deutschlands umtriebigste Kuratorin für die junge Tanzszene, die neben ihrem Job für die Berliner Sophiensæle auch am tanzhaus trw, in mehreren Jurys und zuletzt als Jurorin der Tanzplattform Deutschland arbeitete, übernimmt Mülter ab Sommer das Festival Theaterformen in Hannover und Braunschweig.
Dann ist sie in der Sprechtheatertradition für die Auswahl der Künstler verantwortlich. Obwohl auf Anna Mülters Bühnen höchstwahrscheinlich nicht nur in Worten gesprochen werden wird.
Was sie für Tanz tat, das tat sie mit Herz, Verstand und der bewundernswerten Fähigkeit, zu nerven, ohne nervig zu sein. Queerfeminismus und postkoloniale Sichtweisen sind bei ihr keine Modewörter oder kuratorisches Beiwerk. Sie meinte es immer ernst.
Steht zu ihrer Haltung
Auch sonst kann sie in Gesprächen kräftig punkten. Obwohl sie zu ihrer Haltung steht, lässt sie sich von guten Argumenten durchaus überzeugen. Sie diskutiert leidenschaftlich gerne. Erkennt sie – gehüllt in ein „The Future Is Accessible“-T-Shirt – Barrierefreiheit als Problem, zieht die Tanzszene mit. Aus Einsicht.
So gibt es auch in ihrem sechsten und letzten Tanztage-Jahr an den Sophiensælen mit der für sie üblichen Zweidrittel-Frauenquote ein breites Angebot für mehr Zugänglichkeit: Tastführungen, Live-Audio-Deskriptionen, Relaxed Performances (mit Liegemöglichkeiten für Menschen mit chronischen Schmerzen) und präzise Programmhinweise zu Wegstrecken und Barrieren. Es ist dabei klar, dass die Erfüllung der Kriterien für bestimmte Zielgruppen keine universelle Entmarginalisierung schafft. Vielmehr geht es um das Multiplizieren von gesellschaftlichen Lerneffekten, die durch die Beschäftigung mit spezifischen Bedürfnissen entstehen.
Durchlässigkeit für andere Perspektiven, überhaupt die Fähigkeit, über den eigenen Blickwinkel hinaus zu sehen, steht daher beim traditionell ausverkauften Nachwuchsfestival mehr denn je im Fokus. Gefasst in formal starke, eigenständige Ansätze.
Geschichte umzuschreiben kann – in den Worten des US-Dichters John Ashbery – manchmal sein, wie ein Pferd zusammenleimen, und mit diesem Wissen, dieser Subversivität und diesem Humor gehen Lois Alexander, Caner Teker, Sasha Amaya, das Juck-Kollektiv sowie Frida Giulia Franceschini dann auch ans Werk. Geschichte, die vor allem von Siegern (manchmal auch Sieger*innen undercover) geschrieben wurde, wird bei den Tanztagen umgeschichtet, umgeschmolzen, auseinandergebogen, in den Achseln gekitzelt.
Und sie bewegt sich doch
So hat die feinstofflich bewegliche, in Tanz- und Selbstverteidigungstechniken geschulte Lois Alexander in „Neptune“ (benannt nach dem römischen Meerespatriarchen und Planeten-Paten) Eisblöcke um Ketten gefroren (Bühne: Nina Kay). Das bisschen Schmelzwasser, das von den hängenden Eisbergen tropft, reicht, um ihre Bewegungsqualität komplett zu verändern. Was neugierig macht auf einen Zustand in spe nach der Schmelze.
In „Sarabande“ hingegen schmilzt Sasha Amaya nichts ein, sondern verschweißt verschmitzt Barockaffekte und Tanzfloskeln in eine ihre Mechaniken ausstellende Spielfigurenkörpersprache. Zugleich wird daraus ein komisches Tableau lauter Dinge, die man lieb hat, auch wenn man um ihre Schwächen weiß. Wer die Tanztage besucht und danach wieder auf die Welt blickt, kann sich schon mal hinreißen lassen zu trällern: Und sie bewegt sich doch! Verbindend in den Arbeiten von Teker, Franceschini und dem Juck-Kollektiv ist die Dekonstruktion von männlichkeitsdominierten Sichtweisen auf den (weiblichen) Körper. Es wird gestoßen, gerungen, gezaubert – mit Körpern und Techniken, die klarmachen, dass Empowerment kein Statement, sondern Praxis ist.
Mit etwas weniger (ironischem) Triumph gewürzt, klingen die Ankündigungen der Stücke in der zweiten Halbzeit der Tanztage: Um den Körper als unumkehrbaren Fortsetzungsroman wird es etwa bei Amirhossein Mashaherifard gehen; um den Versuch, Techniken indigener Kulturen und Bühnenrituale zu verbinden bei Maque Pereyra und House of Living Colours.
Die Tanztage in den Sophiensälen in Berlin gehen bis 18. Januar. Programm unter https://sophiensaele.com/de/festival/tanztage-berlin-2020.
Und ganz unironisch klingt auch die Ausschreibung der Sophiensæle: Zum ersten Mal sucht das von einer Choreografin mitbegründete Haus, das in den letzten Jahren 60 Prozent Tanz programmiert hat, in der Anna-Mülter-Nachfolge nach einer Kuratorin in Festanstellung. Mülters Freelancerinnen-Energie war unbändig bis zur zeitweisen Selbsterschöpfung. Das muss jetzt anders gestemmt werden. Endlich.
Anm. d. Red.: Aus diesem Artikel wurde mit Einverständnis der Autorin nach der Veröffentlichung ein Absatz gestrichen, der nach Ansicht der Choreografin Constanza Macras eine unsachliche Behauptung ihr gegenüber enthielt.
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