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Die Kunst von Flücht und Trüll

Wenn es kalt und neblig wird in Ostfriesland, treibt es die Leute auf die Landstraßen, wo sie begeistert ihrem winterlichen Nationalsport frönen: dem Boßeln  ■ Von Frédéric Ulferts

De paaßt!“ „Jawoll!“ „He löppt noch!“ Schreiend springen die Boßlerinnen des Vereins „Gute Hoffnung“ Pfalzdorf hinter einer orangenen großen Kunststoffkugel her. Marita Meyer hat sie in gut 200 Meter Entfernung abgeworfen, und nach ihrem perfekten Lauf auf der Mitte der Dorfstraße rollt die ein Kilo schwere Kugel unter den beschwörenden Rufen der Spielerinnen langsam auf den Grünstreifen zu.

Was ist das für ein Sport, für den von September bis März in dem neblig-kalten Landstrich zwischen Ems und Jade Tausende in Trainingsanzügen auf die Straße gehen? Der aus diesen Menschen mit ihrem schnörkellosen Naturell kreischende und hüpfende Boßelspieler macht?

Boßeln entwickelte sich aus dem alten Friesensport Klootschießen. Beim Klootschießen schleudert man auf einer Wiese eine Kugel (Kloot) nach schnellem Anlauf im Sprung von einer etwa einen Meter hohen Holzrampe. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Anzahl der befestigten Straßen in Ostfriesland zunahm, kam man von der Wiese ab. Die Kugel rollte nun auf der Straße. Das gesellige Boßeln begann dem technisch anspruchsvollen Klootschießen den Rang abzulaufen.

Ziel beim Boßeln ist es, die Kugel möglichst weit vom Abwurfpunkt wegzubefördern. Dabei zählt sowohl die Strecke, die die Kugel in der Luft zurücklegt (Flücht), als auch der Weg, den sie rollt (Trüll). Die weitesten Würfe kommen zustande, wenn der Kloot, flach und mit Effet geworfen, nach nur kurzem Flücht lange am Scheitelpunkt der Straße entlangrollt. Auf der Höhe, wo die Kugel des vorhergehenden Spielers liegengeblieben ist, wirft der nächste der Mannschaft weiter. Sechs bis acht Kilometer legen die Werfer in einem Wettkampf zurück.

Viele „Athleten“, die so durch die Lande ziehen, sind Hobbyboßler: Kneipenmannschaften, Betriebsmannschaften oder einfach nur Freunde. Hier bringt der eine oder andere Schluck Doornkaat erst den Spaß ins Spiel. Das gehört dazu wie das üppige Grünkohlessen danach. 45.000 Ostfriesen und Oldenburger hingegen frönen ihrem Nationalsport ganz ernsthaft im Boßelverein – sie spielen ehrgeizig und vor allem nüchtern.

Die Pfalzdorferinnen führen die Landesliga, die höchste Spielklasse, an und müssen auswärts beim Tabellenzweiten „Good wat mit“ Dietrichsfeld antreten. Der Wurf von Marita Meyer hat ihre Mannschaft früh in Führung gebracht. Gewinnen sie die Meisterschaft, winkt Ende März der „Super-Cup“ des Boßelns, der Wettkampf der Gewinnerinnen der ostfriesischen Landesliga gegen jene der oldenburgischen Landesliga. Dieses Prestigeduell der benachbarten und rivalisierenden Regionen haben bei den Männern und den Frauen in der Vergangenheit öfter die Ostfriesen gewonnen.

Seit 1969 gibt es – inzwischen alle vier Jahre – Europameisterschaften, bei denen sich die Athleten aus den feucht-nebligsten Gebieten Europas in ihren Kugelsportarten messen: irisches Road- bowling, holländisches Weideboßeln und friesisches Klootschießen.

„Den größten Aufschwung nahm das Boßeln ab Mitte der 60er Jahre“, berichtet Arno Olendörp, Vorsitzender des Kreisklootschießerverbandes Norden. Damals begann der Spielbetrieb in Ligen. Im Kreisverband Norden gingen zunächst 54 Mannschaften an den Start, heute sind es 330. Die Ergebnisse aller Spiele läßt sich Olendörp am Wochenende übermitteln. Er aktualisiert die Tabellen und schreibt Spielberichte, die schließlich am Mittwoch die drei Boßelseiten in der Norder Zeitung Ostfriesischer Kurier füllen. „Gerade diese Berichterstattung“, so Olendörp, „motiviert die Jugendlichen, im Verein zu spielen.“ Sicherlich motivieren auch die Idole, die Lokalmatadore. Frido Walter ist so einer. Ein Typ wie Christoph Daum: schlaksig, blond und wach. Der Pfalzdorfer, Trainer der Damenmannschaft von „Gute Hoffnung“, ist Europameister im Road- bowling, der irischen Variante des Boßelns mit einer kleinen, 500 Gramm schweren Stahlkugel. Er berichtet vom Aufschwung des Boßelns allerorten: „Holländische Boßler sind kürzlich in die USA und nach Thailand gereist, um den Sport vorzustellen, und es gibt Bestrebungen, nordrhein-westfälische Meisterschaften auszutragen.“

Mittlerweile geht es auch ums Geld. Zwar gebe es, so Walter, noch keine Ablösesummen und Gehälter, aber im friesischen Zetel gibt es nun jährlich ein mit 2.000 Mark dotiertes Boßeltreffen. In Irland, wo bei den Europameisterschaften 1992 in Cork 12.000 Zuschauer die Straße säumten, ist schon wegen der dortigen Wettleidenschaft mehr Geld im Spiel. Hier kassieren die besten Werfer über 2.000 Mark pro Wettkampf.

Noch ist die Trainingsintensität der Ostfriesen eher bescheiden. Marita Meyer sagt nach ihrem 200-Meter-Wurf lässig: „Das braucht man nicht zu trainieren, das kann man.“ Frido Walter, Topathlet der Szene, geht zwei- bis dreimal in der Woche Laufen und absolviert leichtes Hanteltraining.

Doch nicht nur Trainingsmuffel kommen auf ihre Kosten: Boßeln ist gesellig, leicht zu lernen, bis ins hohe Alter auszuüben, kostet nicht viel und macht als einziger Sport auch die Zuschauer fit, denn sie müssen in flottem Tempo mitlaufen, um zugucken zu können.

Nur der Frust der Niederlage läßt sich auch beim Boßeln nicht vermeiden: Trotz des guten Starts verlieren die Pfalzdorferinnen deutlich mit sechs Würfen Rückstand und müssen jetzt um die Tabellenführung bangen. Mit hängenden Köpfen schlurfen sie dem Vereinsheim von „Good wat mit“ entgegen und fluchen leise vor sich hin: „Wat'n Schiet, volgende Spöl mutten wi winnen!“

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