: Die Kunst, die aus dem Zeilendrucker kam
■ Das multimediale World Wide Web erzeugt zunehmend professionalisierte Langeweile. Aber das Internet kann auch ganz anders aussehen. In Mailboxen, Newsgroups und Mailinglisten zirkulieren immer noch
Die Homepage des Berliner Plattenlabels „Piranha“ ist rot. Die Links stehen dort, wo gerade Platz war. Eine ziemlich wilde und engagierte Truppe offenbar, aber in einer Abenddiskussion in der Berliner Stadtbibliothek gleich neben dem Gebäude des Staatsrats der ehemaligen DDR ist das dem Mitarbeiter des Labels für afrikanische und kubanische Musik nur peinlich. Er verspricht Besserung. Die Grafikagentur, die bisher die Plattenhüllen gestaltet hat, werde nun auch in das Webgeschäft eingebunden. Ein Fortschritt sei das, meint er, und irrt sich. Er zeigt die Website für die kommende Weltmusikmesse in der Berliner Kongreßhalle, die „Haus der Kulturen der Welt“ heißt und immer noch am besten als „schwangere Auster“ beschrieben ist. Wenn sie nicht als ressourcenfressende Grafik in der linken oberen Ecke zu erkennen wäre, könnte das reformierte Design auch auf Hertie oder einen regionalen Busunternehmer hinweisen. Nur die Werbebanner fehlen noch, die Grafiker haben das kreative Chaos gründlich aufgeräumt.
Es empfiehlt sich, www.piranha.de in Rot abzuspeichern und aufzubewahren als Dokument aus besseren Zeiten. Je mehr Online- Designer ihre professionellen Dienste anbieten, desto monotoner sieht das Web aus. Doch die Indizien für eine multimediale Frustration häufen sich. Filterprogramme gegen die ewig gleichen Werbebanner gibt es schon lange, plötzlich macht der „Webwasher“ von Siemens Furore. Er trifft auf ein gesteigertes Bedürfnis nach neuer Einfachheit, nach Texten mit Inhalt und Funktionen mit Sinn. Kein Zufall deshalb, daß die älteste Bildersprache des Internets und der Mailboxen eine Rennaissance erlebt: die Ascii-Kunst.
Ganz vergessen waren die Bilder nie, die nur aus dem Zeichensatz für die alten Zeilendrucker bestehen. Aber jetzt kehren sie aus den Newsgroups und Mailinglisten in das Web zurück. Ein ganzer Webring ist dieser Kunst gewidmet, die wohl ergiebigste Adresse lautet: wigwam.askoyv.no/Ascii/. Der Norweger Erik Kambestad Veland hat Hunderte von Beispielen gesammelt, mache sind Meisterwerke. Eine einzige Zeile kann einen Fisch oder eine Maus darstellen, Ascii-Künstler sind Virtuosen der Abstraktion und Prägnanz. Ascii-Bilder sind Netzkunst im Urzustand und zugleich aktueller als je zuvor: Weil sie keine Grafiken sind, schlüpfen sie durch jeden Werbefilter hindurch. niklaus@taz.de
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