: Die Kunst des Kopierens
■ Zur Polyklet-Ausstellung in Frankfurt
Fast alles, was über Polyklet bekannt ist, muß im Konjunktiv formuliert werden. Er „dürfte seine künstlerische Heimat in Argos gefunden haben, wo er offenbar bei dem großen Bildhauer Ageladas zur Lehre ging“, als einzige Frauengestalt hat er eine Amazone geschaffen, „bei der die Zuschreibung zwar diskutiert, aber nicht angezweifelt wird“, so nachzulesen in einem Text von Peter C. Bol, einem der Ausstellungsorganisatoren. Was sich von Polyklet erhalten hat, sind ein nicht eindeutig zuzuschreibender Bronzesplitter, höchstens zwei Statuenbasen und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate seiner theoretischen Schriften.
Trotzdem können über zweihundert Exponate, die etwas mit Polyklet zu tun haben, präsentiert werden: Statuen, Gemmen, Fragmente, die Arbeiten Polyklets zum Vor-Bild hatten, Umsetzungen der Bronzen in Marmorplastiken, die durch die Materialwahl der Zerstörung entgingen, in Schmuckstücke und Kleinplastiken, die Sammelstücke wurden.
Es sind Kopien ohne erhaltenes Original, die im Liebighaus nebeneinander gezeigt werden. Man muß schon genau hingucken, etwa die verschiedenen Köpfe vergleichen, die auf den polykletischen Diskophoros zurückgehen, die Abweichung von einem nicht vorhandenen Original ermessen, um so im eigenen Kopf zu einer möglichen idealen Rekonstruktion des polykletischen Kopfes zu gelangen. Solch vergleichendes Sehen kann aber zum Lernprozeß an ästhetischen Objekten werden. Wobei es noch am wenigsten um den geradezu prototypischen Nachvollzug der totgeredeten Goethe-Maxime „Erwirb es, um es zu besitzen“ geht, sondern eher um die Ergebnisse des Detailvergleichs. Das Epigonale, Nachahmende wird in der Ausstellung gerade als Voraussetzung des Neuen begriffen, die Kunstleistung nicht in der Sensation, sondern in der Abweichung gefunden. Die Kopien weisen demnach nicht nur auf das nicht mehr zu sehende Original zurück, sondern auch in die Entwicklung, die von diesem Original ausgehen konnte, die griechische Klassik und ihre nachfolgenden Interpretationen.
Was aber veranlaßte überhaupt Bildhauer mehrerer Jahrhunderte, sich Bildwerke Polyklets zum Vorbild zu nehmen, sie umzuinterpretieren (Der Doryphoros — Speerträger — kann durch Hinzufügen von Ziegenfell, Hirtenstab und Flöte zum Pan werden), die eigenen Gestaltungstechniken an denen Polyklets zu messen? Zum einen galt das Nachbilden einer als gültig begriffenen Form in der Antike nicht als unschöpferisch, und Polyklets Statuen eigneten sich aufgrund ihrer Proportionen besonders gut zum Nachbilden. Diese Proportionen waren nicht zufällig, sondern von Polyklet in einer eigenen Schrift, dem „Kanon“ bestimmt worden, der ersten bekannten kunsttheoretischen Schrift überhaupt.
Erläutert wurde der „Kanon“ am Doryphoros, jenem Stand- und Spielbein harmonisch ausbalancierenden Speerträger, mit dem die für Polyklet so charakteristische Fußhaltung der Figuren zum ersten Mal belegt werden kann. Das Stehvermögen von Polyklets Bronzen konnte bei den Marmorkopien zwar wiedergegeben werden, es bedurfte aber — wie beim neapolitanischen Doryphoros — verschiedener Ergänzungen, um die Statue zu stabilisieren. An solchen Beigaben zur eigentlichen Figur wird der Verlust ursprünglicher Details wohl am auffälligsten, der mit der Umsetzung in andere Materialien einherging: Bestimmte Feinheiten etwa der Gesichtszüge konnten beim Marmor nur annäherungsweise kopiert werden.
Und dann war Polyklet auch noch als erfolgreicher Künstler nachahmenswert. Zu seinen Lebzeiten, im 5.Jahrhundert v.Chr., änderten sich Funktion und Selbstbewußtsein von Künstlern grundlegend. Kunst wurde nicht mehr als göttliche Eingebung interpretiert, sondern die Künstler wurden durch ihre Tätigkeit zu Propheten der Götter. Entsprechend legen die Künstler — wie Polyklet mit seinem „Kanon“ — seither ihre Methoden dar. Polyklet gewann Kunstpreise, seine Werke kosteten Vermögen, auch das ein nicht zu unterschlagendes Indiz seiner Wertschätzung.
Eine Wertschätzung, die bis heute fortdauert. Die mehrere Jahre währende Ausstellungsvorbereitung der ersten Antike-Ausstellung überhaupt, die einem einzigen Künstler gilt, hat zu einer Schau geführt, die für Spezialisten wie Laien gleichermaßen interessant ist. Und der angesichts des Aufwandes geradezu spottbillige Katalog mit seinen von Polyklet ausgehenden, aber weit über ihn hinausweisenden Aufsätzen ist ein Musterbeispiel, vielleicht sogar ein „Kanon“ für das, was Ausstellungskataloge heute leisten können. Ursula Wenzel
Polyklet — Der Bildhauer der griechischen Klassik . Liebighaus, Museum alter Plastik, bis 20.1.1991
Der fast 700seitige Katalog ist im Verlag Philipp von Zabern, Mainz, erschienen und kostet an der Museumskasse 48 Mark.
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