: Die Kraft der stilisierten Gesten
Japanisches Theater bei den Berliner Festspielen. Eine Rückschau ■ Von Norbert Mauk
Überaus erfolgreich präsentierte sich in Berlin Japans faszinierendster Aspekt, seine Kultur. Noh, Kabuki, Jiuta-mai: Im Rahmen der 43. Berliner Festwochen wurde eine Auswahl der traditionellen darstellenden Künste — Schauspiel und Tanz, dramatische und lyrische Dichtung, Gesang und Instrumentalmusik — aus dem Inselreich des Fernen Ostens gezeigt. Da die von Generation zu Generation überlieferten Tanz- und Theaterformen in der Tradierung nur geringfügig verändert und weiterentwickelt wurden, ist es heutzutage noch möglich, traditionelles japanisches Theater ungefähr in der Form zu erleben, wie es zur Zeit seiner Entstehung gespielt wurde. Im Westen wäre das kaum möglich.
Geprägt durch die asketische, introvertierte, das Ego zugunsten einer allgemeinen Naturerfahrung verleugnende Kultur des Zen- Buddhismus, markierte die nunmehr fast 600 Jahre währende Ästhetik des Noh-Theaters den Höhepunkt der Veranstaltungsreihe. Die Wahl der Deutschen Oper als Spielort jedoch war eine Fehlentscheidung, denn für die subtile Theaterform des Noh ist die intime Atmosphäre eines kleinen Theaters unabdingbar. Lediglich den Zuschauern in den ersten Reihen beziehungsweise denen, die über ein der Entfernung des Platzes entsprechendes Fernglas verfügten, konnten sich die stilisierten Gesten und die Wirkung der Masken vermitteln. Noh-Darbietungen sind eine Herausforderung, die eine Schärfung des Blickes verlangt, die Darstellungsmittel sind auf die wesentlichsten Merkmale reduziert.
Die erste eigenständige Form einer dramatisch-dialogischen Bühnenkunst in Japan entwickelte sich unter dem Patronat des Samurai-Schwertadels. Das erklärt, daß deren vom Zen-Buddhismus bestimmte Ideale die ästhetischen Prinzipien des Noh-Theaters beherrschen. Lediglich im Kyogen, dem Lustspiel, das als heiteres und burleskes Pendant untrennbar mit dem ernsten Noh-Spiel verbunden ist, werden die strengen Konventionen durch possenhafte Worte und komische Szenen aufgebrochen, in denen es meist um die Bloßstellung menschlicher Schwächen geht. Die unterhaltenden Kyogen-Stücke, die durchaus auch satirische und gesellschaftskritische Schärfe vermitteln können, dienen normalerweise als erholsame Zwischenspiele, um die angestaute Spannung zwischen den oftmals tragischen und anspruchsvollen Noh-Dramen abzubauen.
In Berlin bewiesen die Darsteller des Ensembles Zeami-Za aus Tokio gekonnt ihre schauspielerische und tänzerische Meisterschaft vor allem in den Noh-Stück „Kinuta“ (Der Walkblock). Der klassische Stoff des zweiteilig angelegten Stückes der Mugen-Noh-Tradition handelt von einer liebenden Frau, die aus Verzweiflung und Gram darüber stirbt, daß ihr Ehemann sie vernachlässigt. Als grollender Geist erscheint sie ihrem bereuenden Mann, dem es durch Beschwörung der Kraft des buddhistischen Lotos-Sutra schließlich gelingt, die Seele der Toten zu erlösen und ihr dadurch Frieden zu geben.
Es war faszinierend zu sehen, wie die hinter der Noh-Maske verborgenen psychologischen Prozesse einer liebenden Frau erfahrbar wurden: nur durch subtile Veränderungen ihres Sprechgesanges und ihrer Körperhaltung. In dem Moment, als nach langen Jahren des Wartens und des immer wieder Vertröstens ein Bote die Nachricht überbringt, daß der Ehemann auch in diesem Jahr nicht nach Hause kommen könne, beginnt die Stimme des Frauendarstellers zu beben. Kniend senkt er den Blick, beugt seinen Körper leicht nach vorne und hebt langsam den linken Arm. Als Zeichen tiefer Ergriffenheit hält er die ausgestreckte Hand vor das Gesicht, knapp unterhalb der Augen. Sein Körper erzittert und knickt zur Seite in eine unbequeme Sitzposition. Langsam führt er nun die rechte Hand vor das Gesicht, verstärkt damit die Geste der Trauer.
Der Umstand, daß die sichtbare in Zeitlupentempo ausgeführte Aktion des Zusammenbruchs der Frau auf ein Minimum reduziert und in der Abstraktion auf das Wesentliche konzentriert ist, kennzeichnet eines der grundlegendsten Darstellungsprinzipien in der Kunst des Noh. Durch stilisierte Andeutungen wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer gesteigert und deren Kreativität und Vorstellungskraft herausgefordert. Interessanterweise stand die subtile und stilisierte Kultur der Samurai in krassem Gegensatz zu deren gesellschaftspolitischer Situation, die bestimmt war durch die Wirren der Zeit mit ihren aufreibenden politischen Querelen und kriegerischen Auseinandersetzungen.
Die straffe Neuordnung des Landes, durchgesetzt von der Sippe der Tokugawa nach deren Machtübernahme im 17.Jahrhundert, veränderte die Verhältnisse und sicherte Japan eine fast dreihundert Jahre währende Friedenszeit. Durch den damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung kamen vor allem Kaufleute und Handwerker zu Reichtum und Macht, was wiederum ermöglichte, daß sich Formen der Kunst etablieren konnten, die deren Geschmack entsprachen.
In den Metropolen wie Edo, dem späteren Tokio, Kyoto und Osaka entstand eine Kultur des Bürgertums, die den zurückhaltenden Konventionen der Samurai diametral entgegenstand. Während im Noh alle starken Emotionen unterdrückt und nur die leise angedeutete Geste, die dichterische Anspielung gestattet war, entsprechend den strengen Gesetzen des ritterlichen Ehrenkodex der Samurai und deren disziplinierter Würde, konnten im Kabuki, dem neuen Theater des städtischen Bürgertums, die Schauspieler im hemmungslosen Auskosten aller Gefühlsausbrüche schwelgen und die Gebärden maßlos übersteigern.
Kabuki als kommerzielles Unterhaltungstheater war im Gegensatz zum protegierten Noh gezwungen, durch Flexibilität und Bereitschaft zur Weiterentwicklung auf die unsteten Geschmackswandlungen des Publikums reagieren zu müssen; das heißt, Stücke wurden auf die Problemkonstellationen des Volkes zugeschnitten und neue theatralische Elemente immer wieder in das Bühnengeschehen integriert.
Wie alle traditionellen Künste ist heutzutage auch Kabuki der überlieferten Form verpflichtet, und eventuelle Neuerungen fallen entsprechend dezent aus. Publikumswirksam verstanden und verstehen es heute noch die Protagonisten, sich in Szene zu setzen, unterstützt durch bombastische Kostüme und Schminkmasken sowie einer zu jener Zeit spektakulären Bühnenausstattung mit versenkungs- und Hebemechanismen, Drehbühne und der Konstruktion von Flugvorrichtungen.
Die Inszenierung der choreographierten Kampfszene läßt ein wichtiges Prinzip der überlieferten Darstellungsform erkennen, nämlich die wirkungsvolle Übertreibung und Kontrastierung, wodurch wesentliche Aspekte des Dargestellten gleichsam in einer vergrößerten Projektion deutlich werden sollen. Anders in der Kabuki-Adaption des Noh-Spiels „Kurozuka“ (Schwarzer Grabhügel), das erst 1939 von Ennosukes Großvater Ichikawa En'o geschaffen wurde. Auf der Bühne ist der Schattenumriß einer alten Frau zu erkennen, die damit beschäftigt ist, Seidengarn zu spinnen. Der Raum ist erfüllt vom Zirpen der Grillen. Wenn über den Hanamichi, den Bühnensteg, der durchs Publikum führt, buddhistische Wanderpriester samt Begleitung auftreten, hält die Protagonistin (wiederum Ennosuke) plötzlich inne und läßt die Hände sinken. Kurz darauf verstummt das Zirpen der Grillen. Schneller noch als die Insekten hat die alte Frau gespürt, daß sich Menschen nähern. Sie ist im Besitz übernatürlicher Kräfte, ist ein Dämon.
Das Tanzstück wird dem Shin- Buyoh (Neuer Tanzstil) zugeordnet. Auffallendstes Merkmal ist die Wirkung der durch den Westen beeinflußten Lichtdramaturgie. Die Inszenierung ist, entsprechend der Vorlage, subtiler und hintergründiger, das Spiel verhalten, was der Wirkung jedoch keinen Abbruch tut. Ennosukes vielgerühmte Wandlungsfähigkeit ist ein Garant für die perfekte Interpretation, egal ob er in imposanten Posen einen Helden mimt oder in der Onnagata-Rolle (Frauenfiguren werden im Kabuki von Männern dargestellt) behutsam die emotionalen Schwankungen einer Frauenfigur offenbart beziehungsweise mit furchterregendem Ausdruck einen Dämon spielt.
Wehmütige Erinnerungen an frühere, glücklichere Tage, der Kummer einer enttäuschten oder unerfüllten Liebe, Trennungsschmerz und Einsamkeit bestimmen den tänzerischen Ausdruck der traditionellen japanischen Tanzform des Jiuta-mai, basierend auf den poetisch-aphoristischen Texten der Jiuta-Gesänge.
Meisterlich beherrscht Kanzaki Hidejo im Apollo-Saal der Statsoper den kontinuierlichen Bewegungsfluß auch in den Momenten scheinbarer Regungslosigkeit. Ihr ausdrucksstarker Tanz besticht nicht durch effektvolle Gesten, sondern, wie im Noh, durch subtile Andeutungen: Symbolisch werden Tränen mit dem Ärmel des Kimono abgewischt oder mit einer unscheinbaren Fingergeste die Schneeflocken von dem traditionellen japanischen Gewand „geklopft“.
Nicht nur das große Publikumsinteresse an den nach wie vor exotisch wirkenden japanischen Tanz- und Theaterformen zeugt von einem außergewöhnlichen Ereignis; es wurde begründet durch die phantastische Arbeit der aufführenden Ensembles.
Nichtsdestotrotz wäre dem Berliner Publikum zu wünschen, bei einer nächsten Gastspielreihe ihre Eindrücke mit der Darstellungsweise und Gestaltungskraft anderer nicht minder hervorragender Ensembles aus Japan vergleichen zu können, denn das von Ennosuke III war in Berlin schon dreimal zu sehen, das von Kanzaki Hidejo beziehungsweise Zeami-Za je zweimal. Die Festwochenmacher sollten hier das Risiko des dem Westen obliegenden „immer Neuen“ wagen.
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