■ Die Korrekturen an der ICE-Technik zielen auf die Rehabilitation der Geschwindigkeitsideologie und auf das Vergessen der Katastrophe: Aussteigen unmöglich?
ICE 884. Bleibt es bei einer Trauerarbeit, die bloß Aufräumarbeiten nach sich zieht, oder können aus der Katastrophe von Eschede mehr Lehren gezogen werden? Die Berichterstattung zumindest verbreitet in einem bislang kaum gekannten Ausmaß Details der Sicherheitsrisiken von Hochgeschwindigkeitszügen. Dem allgemeinen Wunsch nach schnellstmöglichem, reibungslosem Transport an den technischen Grenzen der Geschwindigkeit ist ein Katastrophenbewußtsein zur Seite getreten, das sich trotz aller Anstrengungen der Deutschen Bahn AG nicht mehr verdrängen lassen wird.
Die Erkenntnis Paul Virilios, daß jede Technik ihren eigenen Unfall produziert, ist jetzt auch für jenes Verkehrsmittel, dem Sicherheit von Anbeginn eingeschrieben schien, auf das brutalste bestätigt. Der Unfall gibt sich als Gespenst zu erkennen, als ein Wiedergänger, der, wie in Eschede, auch nach Jahrzehnten wie aus dem Nichts auftaucht. Der Spiegel sieht sich genötigt, von einer „Heimsuchung“ zu sprechen, und unterstellt sich damit der Logik des Gespenstischen. Die Frage lautet: Wie kontrolliert man Gespenster? Die Deutsche Bahn AG hat, wie Mercedes-Benz im Falle des unerwarteten Unfalltyps der A-Klasse, sofort mit umfassenden Maßnahmen reagiert. Alle ICE-Züge werden wiederholt kontrolliert, doch der Einsatz selbst sensibelster High-Tech-Instrumente beweist nur eines: Das Gespenst ist nicht zu fassen. Alle Versuche, den Unfall als Einwirkung von außen zu begreifen, sind gescheitert. Das „Rätsel der Technik“ (Virilio) liegt in der paradoxen Gleichzeitigkeit ihrer Funktion und von deren Umkehrung, eine Erkenntnis, die sich am Automobilismus seit einem Jahrhundert exemplarisch studieren läßt.
Die Öffentlichkeit wird stellvertretend über Fahrwerkbeschaffenheit, neue Meßinstrumente und Crashtests informiert. Und doch können die zukünftigen Korrekturen an den Details der Technik, die Hochgeschwindigkeit erlauben, nicht mehr befriedigen. Sie sind lediglich Aufräumarbeiten, die auf die Wiederinstandsetzung der Geschwindigkeitstechnologie abzielen und damit auf ein Vergessen der Katastrophe. Was auf der Strecke bleibt, ist ein dringend benötigtes Katastrophenbewußtsein. Ein solches hätte nicht nur im nachhinein die Opfer zu beklagen, sondern vorgreifend die Möglichkeit der Katastrophe einzukalkulieren. Auf der Ebene der Technik ist dies immer schon geschehen, in den Vorkehrungen, den Unfall abzumildern. Für die soziale und politische Dimension der Geschwindigkeit steht dies jedoch noch aus.
Zwei weiterreichende Folgen der Katastrophe von Eschede sind bereits heute sichtbar. Wie alle Unfälle trägt auch dieser Ernstfall zur Verbesserung der Technik bei. Der Unfall zeigt sein Janusgesicht. Er führt nicht zu einer Korrektur der Geschwindigkeitspolitik, sondern paradoxerweise zu einer Verbesserung der Techniken, die in Zukunft noch höhere Geschwindigkeiten zulassen werden. Unfälle gehören als integraler Bestandteil der Maschinen, die sie produzieren, zum Programm. Sie stellen eine Korrekturschleife dar, die das Sicherheitsrisiko erneut als kalkulierbar erscheinen läßt, entgegen besserer Einsicht. Für das Jahr 2003 ist die Inbetriebnahme der ICE-Strecke Nürnberg–München vorgesehen.
Doch bietet nicht gerade Eschede eine Chance, die allzu leichtfertig von der Suche nach dem Schuldigen, sprich der Unfallursache, verdeckt zu werden droht? Die Chance bestünde zunächst in der Lehre, daß auch die sprichwörtliche Sicherheit auf Schienen nur ein Werbemittel war. Wir alle, Insassen einer Geschwindigkeitsfabrik, sind zu Passagieren und damit zu potentiellen Opfern geworden. Die Medienlogik allerdings nimmt sich immer nur des außergewöhnlichen Unfalls an und stilisiert ihn zum Außergewöhnlichen. Die Bevölkerung von Eschede und jene Helfer, denen sich der Schock der Katastrophe in die Körper prägte, sind nur die leidtragenden Stellvertreter. Die Medienlogik folgt einem fragwürdigen Auswahlmechanismus von Aktualität und Anwesenheit. Berichtet wird „vor Ort“. Damit nähren die Medien die Illusion, der Unfall sei „dort“, fern von Zuhause, an seinem Ort. Das Fernsehen übersetzt nicht nur Ferne in die Nähe der Wohnstube, sondern fungiert zugleich als Distanzierung des Zuschauers. Seinem Blick wird zugleich die eigene Sicherheit bestätigt. Auf der Strecke bleiben Grundlagenreflexionen der Verkehrspolitik wie eine übergreifende Erkenntnis, die den Unfall in seiner Widerspenstigkeit als irreduzibles Problem der Hochtechnologie ausweist. Die Fixierung auf den besonders schweren Unfall führt zur Wirkungslosigkeit einer „Katastrophendidaktik“ (Sloterdijk), die in der Katastrophe immer nur das außergewöhnliche Ereignis reflektiert, nie aber deren ständige Beteiligung am Verkehrsgeschehen herausstellt.
Dem gegenüber steht nach Eschede die Einsicht, daß jeder Opfer gewesen sein könnte. Nur der Zufall verhindert die Abwesenheit. Denn so sicher, wie der Schock über den Verlust der Kontrolle jetzt ins Bewußtsein dringt, so sicher werden wir vom Geschwindigkeitsmilieu, in dem wir leben, genötigt, demnächst wieder den schnelleren Zug zu nehmen. Ein „Aussteigen“ aus der Geschwindigkeitsfabrik gibt es nicht. Während die Deutsche Bahn AG und die lädierte deutsche Ingenieurskunst voller Elan darangehen, mit den Trümmern auch die Bedenken zu zerstreuen, scheint die Frage nach den Folgen zu einer der Lebenseinstellung der Reisenden werden zu müssen. Die Umkehrung dessen, was als Normalität gilt, die Annahme, der Transport gelinge reibungslos, wird zweifellos einen neuen Existentialismus des Reisens nach sich ziehen. Eine Melancholie des Reisenden, der davon ausgehen muß, daß er überleben wird, aber zugleich darum weiß, daß keine Kontrolle das sogenannte Restrisiko wird ausschalten können.
Die Bahn AG täte gut daran, ihre Konkurrenz zu Inlandsflügen nicht allein mit Geschwindigkeitssteigerung zu bestreiten. Die verständnisvolle Reaktion der Bahnreisenden auf Verspätung und Verlangsamung des Zugverkehrs deutet die Einsicht der einzelnen an, die lieber reisen als rasen. Wer schreibt denn eigentlich vor, daß es möglichst schnell gehen muß? Geschockt und sensibilisiert wird jede weitere Entgleisung vom Medienecho notiert werden, bis die nächste Flugzeugkatastrophe dasselbe auf einem anderen technischen Feld erneut durchexerziert. Die Frage nach dem, was wir daraus lernen müssen, wird sich erneut stellen, jedem einzelnen. Matthias Bickenbach
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