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Die Kollegen an die Hand nehmen

■ Obdachlose gründen Selbsthilfegruppe / Betroffene durch Erfahrungsaustausch ermutigen

Morgen findet die europaweite „Nacht der Wohnungslosen“ statt. Auch in Hamburg werden Wohnungslose, Prominente und interessierte Menschen nach einem kulturellen Rahmenprogramm gemeinsam auf dem Gerhard-Hauptmann-Platz übernachten. Mit dabei: Hamburgs erste Selbsthilfegruppe für Obdachlose. Sie wird an einem eigenen Stand über die Schwierigkeiten von Obdachlosen in der Hansestadt informieren.

Sitz der erst kürzlich gegründeten Selbsthilfegruppe ist die Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungs- und Obdachlose des Diakonischen Werks an der Bundesstraße 101. Dort haben Menschen ohne festen Wohnsitz seit 25 Jahren eine Anlaufstelle. „Sie können bei uns an sechs Tagen in der Woche ihre Wäsche machen, duschen, sich rasieren“, erklärt Mitarbeiter Peter Ogon den Zweck der Einrichtung. Geöffnet ist jeweils für einen halben Tag, an zwei Tagen gibt es Frühstück. Wichtig: „Hier haben ungefähr 200 Nichtseßhafte eine ständige Postadresse.“ Ohne Anschrift bekommen sie weder Arbeitslosengeld noch Sozialhilfe.

Die Bundesstraße 101 ist ein sogenanntes „niedrigschwelliges Angebot“. Jeder kann kommen, ohne Anmeldung und Preisgabe der Identität. Es gibt nur noch zwei weitere Einrichtungen in Hamburg, die ähnliche Arbeit leisten: das Herz-As und die Heilsarmee. „Zu wenig“, meint Peter Ogon. Deshalb begrüßt er die Eigeninitiative der Obdachlosen. „Wir sind mit 2,25 Sozialarbeiterstellen schlicht überfordert.“ An manchen Tagen werden 170 Obdachlose betreut.

Seit Anfang an sind Horst und Jochen bei der Selbsthilfegruppe aktiv. Beide haben einige Jahre auf der „Platte“ hinter sich, sind jetzt dabei, in ein geregeltes Leben zurückzukehren. Der 47jährige Horst hat inzwischen eine eigene Wohnung. Jochen (35) lebt noch im Hotel auf St.Pauli, bekommt heute seinen Mietvertrag für eine Saga-Wohnung. Sie engagieren sich in der Gruppe, weil sie wissen, wie wichtig es für die Menschen auf der Straße ist, „einen zu haben, bei dem man sich mal richtig ausheulen kann“.

Jochen kam 1990 aus der ehemaligen DDR, war bald arbeitslos, erbettelte sich die tagtägliche Pizza „auf der Meile“. Er ist schwerbehindert, sämtliche Papiere wurden ihm geklaut. Nur durch die Hilfe einer Krankenschwester kam er ins Pik-As. Jetzt lebt er schon seit zwei Jahren in einem Einzelzimmer auf dem Kiez.

Der Signaltechniker Horst hat bis 1987 bei der Hamburger Hochbahn gearbeitet. Schon damals hatte er zeitweise keine eigene Wohnung. Nachdem er auch noch seinen Job verloren hatte, lebte er endgültig auf der Straße. Bis er es mit Hilfe sozialer Beratungsstellen geschafft hat, sein Leben neu zu Ordnen, Schulden zu bezahlen.

Die Selbsthilfegruppe trifft sich wöchentlich mit rund 15 Obdachlosen. Ziel ist es, auch nach der „Nacht der Wohnungslosen“ Kollegen zu helfen. „Sie mal an die Hand zu nehmen und zum Sozialamt zu gehen, Scheu und Scham gemeinsam zu überwinden“, sagt Jochen. Nur übernachten lassen würde er keinen bei sich, meint Horst: „Sonst lande ich bald selbst wieder auf der Straße, weil sich das schnell herumspricht.“

Torsten Schubert

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